Host-Info
Sonja Puntscher-Riekmann
Forschungsstelle für Institutionellen Wandel und Europäische Integration, Österreichische Akademie der Wissenschaften
 
ORF ON Science :  Sonja Puntscher-Riekmann :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Der Europäische Konvent: Leise Revolution der EU  
  Manche Revolutionen finden leise statt. Eine solche Revolution stellt die Einsetzung eines Konvents zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung für die Europäische Union dar. Dass dieser Bruch mit der Tradition von Vertragsänderungen durch Regierungskonferenzen gelingen konnte, hat zwei Gründe.  
Seit Amsterdam führen die "langen Nächte" der Regierungen zu weitgehend unbefriedigenden Ergebnissen. Vor allem die drängende Aufgabe, die Union mit einer demokratischen und effizienten Grundlage auszustatten, versank im Feilschen der Regierungen um nationale Vorteile und Vetorechte.

Zugleich stand den europäischen Regierungen eine erfolgreiche Alternative vor Augen: der Konvent zur Verhandlung der Europäischen Grundrechtecharta.
Konvent der Grundrechtecharta als Vorbild?
Der Erfolg dieses Konvents hatte nicht zuletzt mit seiner Zusammensetzung aus europäischen und nationalen Parlamentariern, Vertretern der Regierungen und der Kommission sowie mit der Ernennung eines prestigereichen und unabhängigen Präsidenten, Roman Herzog, zu tun.

In nur neun Monaten Arbeit hat dieser Konvent im Jahr 2000 ein umfassendes und kohärentes Dokument der europäischen Grundrechte vorgelegt. Dabei ist unübersehbar, dass dies nur gelingen konnte, weil der Kreis der Mitspracheberechtigten auf die Parlamentarier ausgeweitet und damit eine neue Perspektive eröffnet worden war.

Doch sollte man nicht ohne weiteres eine automatische Wiederholung dieses Erfolgsmodells annehmen. Denn die Regierungen wachen eifersüchtig über ihre Rechte und versuchten schon im Vorfeld der aktuellen Reformdebatte, das Heft in der Hand zu behalten.
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Zusammensetzung und erste Konflikte
Der neue Konvent ist im Grunde ebenso zusammengesetzt wie der alte. Dazu kommen noch Vertreter der Parlamente und Regierungen der Beitrittskandidaten, wenngleich ohne Stimmrecht. Am 28. Februar 2002 findet die konstituierende Sitzung im Europäischen Parlament in Brüssel statt.

Dem Konvent stehen Valery Giscard d'Estaing als Präsident, Jean-Luc Dehaene und Giuliano Amato als Vizepräsidenten vor. Ein unterstützendes Sekretariat wurde im Generalsekretariat des Rates eingerichtet. Ein Präsidium von zwölf Mitgliedern aus der Mitte des Konvents wird die Arbeiten koordinieren und steuern.

Noch vor der konstituierenden Sitzung legte der Präsident eine Geschäftsordnung und Tagesordnung vor und provozierte damit den Zorn der europäischen Parlamentarier.
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Brisante Machtfrage: Wer hat das Heft in der Hand?
Die künftigen Konfliktlinien liegen vor allem in der brisanten Machtfrage, wer um die Neuordnung der europäischen Institutionen und Verfahren den Sieg davon tragen wird: der Konvent in seiner gemischten Zusammensetzung oder die Regierungen.

Zwar haben die Regierungen aufgrund ihrer eigenen Unfähigkeit, brauchbare Lösungen zu produzieren, das Konventsmodell gewählt, doch scheinen sie nun die Arbeit des Konvents dominieren zu wollen.

Das gilt nicht für alle in gleichem Maße und spiegelt sich auch in der Auswahl ihrer Vertreter. Manche Regierungen wählten wichtige Vertreter mit einem ausgewiesenen europapolitischen Engagement, andere wiederum schickten akademische Experten ohne politische Verhandlungserfahrung, wieder andere solche, von denen sie eine Rolle als "his master's voice" erwarten.
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Beispiel Österreich
Letzteres gilt vor allem für den österreichischen Regierungsvertreter Farnleitner, der just diesen Begriff für seine Aufgabenbeschreibung wählte (Profil 25.2.2001).

Auch dass das Sekretariat des Konvents beim Rat und nicht im Parlament eingerichtet wurde, deutet nicht nur symbolisch auf den Willen der Regierungen, ihren Einfluss geltend zu machen. Was man denkt, hängt davon ab, wo man sitzt, sagt ein englisches Sprichwort.
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"Regierungsthemen": Keine klare Prioritätensetzung
Schon durch die Erklärung des Europäischen Rates in Laeken im Dezember 2001 versuchten die Staats- und Regierungschefs die Tagesordnung des Konvents zu bestimmen. Doch zeigt die Themenliste aufs Neue, wie wenig sie zu einer klaren Prioritätensetzung in der Lage waren.

Während die zentrale Frage, wie Demokratie als Herrschaftsform im supranationalen Raum zu begründen und organisieren sei, höchst floskelhaft behandelt wird, genießen die Probleme der Effizienz und der Kompetenzverteilung Vorrang.
Für effiziente Entscheidungsstrukturen ...
Effiziente Entscheidungsstrukturen sind auch das Anliegen eines am Montag, 25. Februar 2002 gemeinsam verfassten Briefes von Schröder und Blair an den spanischen Ratspräsidenten, der als Empfehlung auch an den Präsidenten des Konvents geschickt wurde.

Als wesentlicher verfassungspolitischer Vorschlag tauchen darin die Straffung der Arbeit des Europäischen Rates und dessen Befreiung von tagespolitischen Entscheidungen auf, um die Führungsrolle des Europäischen Rates zu gewährleisten.

So bestimmend Effizienzfragen in der modernen Politik sind, sie sind nur eine Seite der Medaille. Partizipation und Kontrolle stehen auf der zweiten, wenn Politik demokratisch zu sein beansprucht.
Ein historischer Moment für die europäische Demokratie
Der Konvent wird das Adjektiv historisch nur dann für sich beanspruchen können, wenn es ihm gelingt, neue demokratisch-republikanische Grundlagen für die supranationale Gemeinschaft zu schaffen.

Dafür muss er, müssen seine Mitglieder, das enge Effizienzdenken der Regierungen überschreiten. Demokratie und Effizienz stehen zwar stets in einem Spannungsverhältnis, sie sind jedoch kein Gegensatz, sondern das begriffliche Zwillingspaar moderner Politik.

Zu suchen ist nach einem System von "checks" and "balances", das effiziente Entscheidungen und deren Kontrolle ermöglicht. Zu suchen ist nach Verfahren, die Partizipation und Deliberation erlauben, und Entscheidungen durch die rationale Berücksichtigung der größtmöglichen Zahl von Interessen optimieren.
Akzeptanzprobleme - Gefahr des Scheiterns
Was schlecht, weil im zu engen Interessenkreis verhandelt wird, stößt auf Akzeptanzprobleme und erhöht die Umsetzungskosten von Politik. Sie wird damit ineffizient. Vertragsrevisionen, die in Volksabstimmungen abgelehnt werden, machen neue Verhandlungen und neue Abstimmungen notwendig.

Das dänische Nein zum Vertrag von Maastricht und das irische Nein zum Vertrag von Nizza sind einschlägige Beispiele. Für dieses kostenintensive Verhandlungsmodell sind bis jetzt die nationalen Regierungen verantwortlich

Dass sie nur schwer die eingespielten Muster zu verlassen vermögen, ist verständlich. Ihren Wünschen im Konvent zu großen Raum zu geben, birgt jedoch die Gefahr des Scheiterns für das gesamte Unternehmen.
Machtfaktor Öffentlichkeit
Die parlamentarische Mehrheit im Konvent muss ein tragfähiges Gegenkonzept entwickeln, dessen Durchsetzungsfähigkeit nicht zuletzt von der Allianz des Konvents mit der europäischen Öffentlichkeit abhängt.

Die Vorschläge der eigenen nationalen Öffentlichkeit gegenüber zu präsentieren und zu begründen, die Dynamik der Konventsdebatten und der Diskussionen in den anderen Mitgliedstaaten darzustellen, ist eine wesentliche Aufgabe vor allem der parlamentarischen Vertreter im Konvent.
Die Verfassung geht alle an
Sie müssen die Bürger und Bürgerinnen von der Bedeutung des Konvents und des historischen Augenblicks überzeugen, wenn sie Akzeptanz für die schwierigen Entscheidungen über die Kompetenzverteilung zwischen der europäischen, der nationalen und der regionalen Ebene, über das Verhältnis zwischen den europäischen Institutionen und zwischen diesen und den nationalen, erreichen wollen.

Verfassungsfragen sind nur scheinbar Expertenangelegenheiten. Sie sind in der Tat Machtfragen und gehen alle an.
->   Der Europäische Union
->   Peter Biegelbauer: Der Verfassungskonvent und die Zukunft der EU
->   Sämtliche Artikel von Sonja Puntscher-Riekmann in science.ORF.at
 
 
 
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