Host-Info
Franz Seifert
Freier Sozialwissenschaftler in Wien
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Wissen und Bildung .  Gesellschaft 
 
Keine Einigung zur menschlichen Natur ...
... so what?
 
  Immer wieder taucht sie auf, die Frage nach der menschlichen Natur. Und doch scheint eine offene, Disziplinen-übergreifende Verständigung so gut wie unmöglich. Aber wen stört das?  
Ein Dauerbrenner
Ob nun in den Kulturkämpfen um Konrad Lorenz - Schuld und Verdienst, in Studien zum Balzverhalten von US-Teenagern oder im philosophischen Disput über Gehirn und Bewußtsein - die Frage, wie sehr "die Biologie" unser Dasein bestimmt, sorgt stets für Diskussionen.

Alle Welt hat eine Meinung - weltberühmte Philosophen ebenso wie philosophierende Würstelstandbesucher. Weit reichend auch die Positionen: vom kruden biologischen Determinismus bis zur Überzeugung, die menschliche Natur sei nichts anderes als pure Ideologie im Dienste von Herrschaftsverhältnissen.

Auch die Humanwissenschaften sind gespalten. Gibt es eine menschliche Natur? Worin besteht sie? Was lässt sich mit ihr erklären? Zumeist sind die Positionen festgefahren. Unendlich weit entfernt von Verständigung oder gar gemeinsamem Verständnis, redet man - wenn man miteinander redet - aneinander vorbei.
Illusion Einheitswissenschaft
Auf den ersten Blick überrascht das. Ausgerechnet im Zeitalter der explodierenden Wissenszunahme zur biologischen Natur des Menschen (man denke an den Datenmoloch des Humangenom-Projekts) werden die Klüfte zwischen den Vorstellungen von der menschlichen Natur nur tiefer.

Warum ist das so? Die Gründe, meine ich, liegen in der Arbeitsweise der Humanwissenschaften. Hinfällig ist die einst vom Wiener Kreis propagierte, optimistische Vision einer Einheitswissenschaft, wonach Natur- und Sozialwissenschaften einem einheitlichen erkenntnistheoretischen und methodischen Kanon gehorchen sollten.

Während die Naturwissenschaften (meist) auf einheitliche Paradigmen zurückgreifen können - für die Biologie ist das etwa die Evolutionstheorie - wuchern in den Sozialwissenschaften die "Schulen" und "Ansätze". Die allerwenigsten schließen methodisch und inhaltlich an die Naturwissenschaften an. Die meisten - und noch dazu die interessantesten und einflussreichsten - haben sich längst von ihr emanzipiert und führen ihr eigensinniges Eigenleben.
Irreversibel
Die meisten Naturwissenschaftler/innen stehen diesen Schulen nur kopfschüttelnd gegenüber. Wenn manche im Gefolge Michael Foucaults Macht und Wissen zu dubiosen "Diskursen" verschmelzen lassen, und andere mit Niklas Luhmann das Bild menschenleerer Gesellschaften zeichnen, dann ist das nicht nur schwer verständlich, sondern setzt sich auch dem Verdacht aus, nichts mehr mit Empirie und Überprüfbarkeit zu tun zu haben.

Der Verdacht ist oft nicht unbegründet, aber andererseits, würde man sich als Sozialwissenschaftler/in den strengen Standards der Naturwissenschaften unterwerfen, blieben die Resultate wohl oft nur trivial und auf andere Ziele wie Zeitdiagnose und kritische Intervention, müsste man verzichten.

Man mag zu dieser Fragmentierung der Wissenschaft stehen, wie man will, rückgängig zu machen ist sie nicht. Zu unvereinbar sind die Wissenschaftskulturen, zu gering das Karriereinteresse an akademischer Grenzüberschreitung - bzw. zu groß die damit verbundenen Karriererisiken. Mit "aneinander vorbei" kommt man einfach weiter.
Scherbenhaufen
Somit wird auch die menschliche Natur ein Scherbenhaufen verfeindeter Perspektiven bleiben. Die einen werden zum wiederholten mal nachweisen, dass es sich dabei um nichts anderes als ein "soziales Konstrukt" handelt, die anderen, dass, sagen wir, beruflicher Ehrgeiz auch nichts anderes sei als eine Fortpflanzungsstrategie.

Und dann gibt es da noch die Ausnahmen. Sehr rar im deutschsprachigen, häufiger im angelsächsischen Raum finden sich auch synthetische Zugänge, die sich mit den komplexen Zusammenhängen zwischen Humanbiologie und menschlicher Zeichensysteme und Institutionen beschäftigen. Deren Ausgangspunkt ist allerdings die Anerkennung der weitgehenden Autonomie von Kultur.
Meist belanglos
Zudem wird man gerade aus einem synthetischen Verständnis von menschlicher Kultur und Natur die Erklärungskraft letzterer nicht allzu hoch veranschlagen. Zwar ist der Beitrag, den Verhaltensforschung und Soziobiologie für Psychologie, Sexualforschung oder die Forschung an Kleingruppen geleistet hat, nicht zu leugnen.

Für die überwiegende Mehrheit der Fragen, die sich die Sozialwissenschaften stellen, ist die menschliche Natur aber schlichtweg irrelevant. Worin besteht etwa ihr Beitrag, wenn man fragt, unter welchen Bedingungen Demokratien zusammenbrechen, wie ethnische Konflikte vermieden werden können oder welche Ausbildungssysteme die Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft steigern?

Obwohl es ziemlich einseitig ist, das Konzept einer menschlichen Natur grosso modo als ersten Schritt zu Sozialdarwinismus, Rassismus und Sexismus abzuurteilen, ist doch festzuhalten, dass es zur Lösung der wenigsten praktischen und theoretischen Probleme (von medizinischen einmal abgesehen) nennenswert weiter hilft.
Natur als Privatsache
Diese Einsicht könnte etwas die Luft aus dem alten weltanschaulichen Zwist um die menschliche Natur nehmen. An Dramatik verlieren könnte er auch durch den langfristigen Trend zu einer zunehmend wählbar werdenden individuellen Natur.

Dafür stehen einerseits technologische Entwicklungen: Der enorme Zuwachs an kosmetischen, sport- und reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten verwandelt eine einst schicksalhafte physischen Existenz zum Gegenstand ständiger Entscheidungen und Interventionen.

Ferner erweitert aber auch die Durchsetzung liberaler Grundsätze den individuellen Dispositionsrahmen zur Gestaltung der je eigenen Natur. Lebensformen, die einst mit dem Argument ihrer angeblichen "Unnatürlichkeit" ausgeschlossen wurden - Beispiel Ehe Gleichgeschlechtlicher - werden nun unter Rekurs auf diese Grundsätze möglich.

Die menschliche Natur wird - analog dem Glaubensbekenntnis - zur Privatsache und damit nebensächlich. Worin sie besteht, wird dadurch zwar nicht klarer, aber vielleicht lässt sich der Dialog darüber etwas weniger aufgeregt führen.
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Literatur
Franz Seifert: Wie man die "menschliche Natur" besser nicht in die Sozialwissenschaften einführen sollte, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 1/2004, 93-101.
->   Österreichische Zeitschrift für Soziologie
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->   Alle Beiträge von Franz Seifert in science.ORF.at
 
 
 
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