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Franz Seifert
Freier Sozialwissenschaftler in Wien
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Gesellschaft 
 
Psychoanalyse: Persönliche Fußnote und Buchtipp  
  Als die science.ORF.at-Redaktion anregte, einen Kommentar zum Freud-Jahr zu verfassen, fragte ich mich nach meinem Verhältnis zur Psychoanalyse. Ich würde es als erstens etwas nostalgisch und zweitens immer noch sehr neugierig bezeichnen - ein Buchtipp zu letzterem.  
Eine Jugendleidenschaft
Erst zur Nostalgie: Die kommt bei mir manchmal auf, wenn ich an meine Studienzeit denke, in der ich mich tatsächlich für die Psychoanalyse begeistert habe. Die Anregung erhielt ich (die Welt ist klein) in einer Vorlesung von Andre Gingrich.

Ich studierte damals Biologie und Verhaltensforschung, fand diesen Zugang zum Menschen zwar robust, aber nicht besonders befriedigend (zu reduktionistisch, könnte man sagen) und suchte nach einer offeneren, ganzheitlicheren Sicht der Dinge.

Ich fand sie für eine Weile in der Kulturanthropologie, und, was mich damals an dieser unter anderem begeisterte, war deren Liaison mit der Psychoanalyse. Deren Sensorium für das Irrationale und Doppeldeutige, ihre Nähe zum Literarischen und die Intensität psychoanalytischer Beziehungen faszinierten mich.
Die Wissenschaft und ihre Lehre ...
Ich dachte auch ernsthaft daran, später einmal "ethnopsychoanalytisch" zu forschen. Nicht ohne Schmunzeln erinnere ich mich an einen dreimonatigen Autostopp-Trip durch Australien. Im Rucksack hatte ich (zwei Kilo) einschlägige Literatur. Die endlosen Fahrten durch das australische Outback gaben mir reichlich Gelegenheit, meine nichts ahnenden Chauffeure zu "psychoanalysieren".

Das Interesse wurde irgendwann von anderem überlagert, und die Realität des Wissenschaftsbetriebs, die ich in der Folge kennenlernte, ist eine, die - außerhalb eines sehr spezifischen akademischen Zusammenhangs (bzw. Elfenbeinturms) - in Wahrheit kaum Spielraum für intellektuelle Experimente lässt.
... sind frei
Was ist von der damaligen Beschäftigung geblieben? Wie mit den meisten Bildungsinhalten, die man sich im Laufe der Zeit aneignet und die sich in der Folge als "nicht anwendbar" herausstellen, bin ich mir da nicht so sicher.

Im Rückblick aber war wohl entscheidend, sich einmal intensiv auf eine Alternative zum naturwissenschaftlichen Glaubensbekenntnis eingelassen zu haben. Das bereitete den Weg zu den Sozialwissenschaften, in denen ich später tätig werden konnte.

Die "Freiheit der Wissenschaft" bedeutet seither für mich immer auch die individuelle Freiheit in offener Auseinandersetzung mit der eigenen Subjektivität zu arbeiten - zugegeben, auch nicht viel mehr als eine Freiheit des Gedankens. Denn der gängigen Praxis, diese Subjektivität methodisch auszublenden, um sie dann als nicht existent zu präsentieren, ist schwer zu entkommen.
Psychiatriegeschichte
Der zweite Ansatzpunkt ergibt sich aus der Metaperspektive der Psychiatriegeschichte. Verbunden mit diesem ist bekanntlich Michel Foucault, dessen diskursanalytische Ideen ihre Spuren im Methoden- und Argumentationsrepertoire der Sozialwissenschaften hinterlassen haben.

Der diskursanalytische Zugang, der die Mehrdeutigkeit und Unschärfe sozialer Vorgänge und Konflikte betont, deren Eingebundenheit in institutionelle und wissenschaftliche Entwicklungen, ist heute aus der Diskussion über medizin- und biopolitische Vorgänge nicht mehr wegzudenken.

Dass die Geschichte der Psychiatrie und ihres Gegenstandes immer noch überaus reiches Anschauungsmaterial für diesen Zugang liefert, möchte ich im Weiteren mit folgender Buchempfehlung belegen.
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Buchtipp
Alain Ehrenberg (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Campus, Frankfurt/Main.

Diese Empfehlung schweift zwar noch weiter von Freud ab, ich mache sie trotzdem, weil mich die Arbeit wissenschaftlich beeindruckt hat und man aus ihr ungeheuer viel über uns, unsere Zeit und die gegenwärtige Psychiatrie als Wissenschaft, aber auch die Psychoanalyse lernen kann.
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Depression als Zeiterscheinung
Ehrenbergs Ausgangsbeobachtung: Die Depression ist zur Krankheit unserer Epoche geworden, mit ihr verbunden eine Epidemie von Suchterkrankungen. Seine These: Die Ausbreitung der Depression spiegelt unsere veränderte gesellschaftliche Stellung wider. Sie ist der Preis unserer Freiheit.

Fanden Verbot, Hierarchie und Zwang, welche die Tage Freuds prägten, ihre Entsprechung in typische Formen psychischen Leids (Neurose, Hysterie), so ist die Depression das Übel des befreiten, selbstbestimmten Menschen unserer Tage. Ehrenberg porträtiert dessen Zustand als einen der Erschöpfung und Leere angesichts der titanischen Aufgabe, sich selbst zu verwirklichen, zu steuern, zu verantworten.

Das Gebot, "ganz ich" zu sein, resultiert dabei freilich nicht aus einem spontanen Verlangen des Menschen, sondern aus den herrschenden Idealen des eigenverantwortlichen, unternehmerischen, leidenschaftlich engagierten Arbeitnehmers.

Gleichzeitig erzeugt die liberale Konkurrenzgesellschaft neue Unsicherheiten und Traumatisierungsrisiken und trägt so zur Pandemie depressiver Erkrankungen bei.
Psychiatrie als Suchprozess
Bemerkenswert ist der enorme Materialreichtum der Arbeit und ihr sachkundiges Eindringen in die psychiatrischen Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts. Die an Virulenz gewinnende Depression wird dabei eben nicht als fixe diagnostische Kategorie behandelt, sondern als etwas, das endgültig zu definieren die Psychiatrie über Jahrzehnte vergeblich ringt.

Insgesamt ergibt sich das Bild eines definitorischen Chaos, einer sich immer wieder revidierenden, widerwillig ihr eigenes Unvermögen eingestehenden Psychiatrie. Gleichzeitig werden Trends deutlich: etwa der Aufstieg von Psychopharmakologie und Antidepressiva. Faszinierend sind die Kapitel über die Karrieren von Prozac, Serotonin- und Neurorezeptorenforschung.

Man erfährt aber auch Interessantes über die sich wandelnde Stellung der Psychoanalyse innerhalb der Psychiatrie. Diese, so wird gezeigt, gerät durch die pharmakologische Revolution und standardisierten Diagnoseverfahren als Behandlungsmethode wie Erklärungsmodell dramatisch ins Hintertreffen.
Das Verschwinden des Konflikts
So wird die Depression auch kaum mehr als neurotischer Konflikt behandelt, wie dies die Psychoanalyse tun würde, sondern als Handlungsunfähigkeit vor dem Hintergrund einer individualisierten Konkurrenzgesellschaft, die unablässig zur individuellen Handlung aufruft.

Worum es nunmehr geht, ist die Wiederherstellung der selbsttätigen Betriebsfähigkeit des Individuums. Das psychoanalytische "Durcharbeiten" des zugrundeliegenden Konflikts ist aus der Mode gekommen.

Ehrenberg ist keineswegs unkritisch gegen die Psychoanalyse (oftmalige Unabschließbarkeit der Therapie, Abhängigkeit vom Therapeuten etc.), doch bedauert er den Niedergang der Idee, die Krise als Weg der Selbstreflexion zu begreifen. Für ihn geht damit auch etwas von unserer Fähigkeit verloren, als Staatsbürger produktiv an sozialen Konflikten teilzunehmen.

Das Buch ist jedenfalls eine der interessantesten Individualismus- und Gesellschaftskritiken, die mir in letzter Zeit untergekommen sind. Es bietet ferner ein Modell einer gelungenen Diskursanalyse, und ist einer der Gründe, weshalb ich immer noch sehr neugierig auf Entwicklungen in Psychiatrie und Psychoanalyse bin.

[20.2.2006]
->   Alle Beiträge von Franz Seifert in science.ORF.at
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->   Sigmund Freud: Zwischen Respekt und Skepsis - von Andre Gingrich (10.1.06)
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