Host-Info
Franz Seifert
Freier Sozialwissenschaftler in Wien
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Wissen und Bildung 
 
Wie Fotokunst die Orte der Wissensvermittlung sieht  
  Bei der diesjährigen Biennale von Venedig fiel mir eine Arbeit des Österreichers Rainer Ganahl auf. Sie beschäftigt sich mit der Welt des internationalen, akademischen Seminarbetriebs - und leistet damit einen in der zeitgenössischen Kunst seltenen Reflexionsbeitrag zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft.  
Ein erster Eindruck
Beim Betreten der Halle mit Ganahls wandfüllender Installation war ich nach einem Tag Biennale schon ziemlich übersättigt. Ganahls Fotoserien, die Szenen aus diversen Hörsälen oder Seminarräumen zeigten, fielen mir daher anfangs nicht besonders auf.

Dann bemerkte ich ein paar bekannte Gesichter. Da war zum Beispiel Eric Hobsbawm, Edward Said oder Pierre Bourdieu. Neben den Serien von jeweils drei oder vier Bildern stand dementsprechend: "Seminar/Lecture, Pierre Bourdieu, Recherches récentes, Collège de France, Paris, 1/12/2000. 4 photographs". Ich sah mir die Bilder genauer an.
Schnappschüsse
 
Bild: R. Ganahl, S/L: Fredric Jameson, Modernity, Modernism and Late Modernism, UCLA, Los Angeles, 4/26/01

Insgesamt waren 13 Fotoanordnungen solcher "Seminars/Lectures" verschiedener hochkarätiger Intellektueller zu sehen; Schnappschüsse, gesammelt von 1995 bis 2005 bei Veranstaltungen an renommierten akademischen Institutionen in Paris, Los Angeles, New York, London.

Politisch brisant die dort abgehandelten Themen: Islam, weibliche Beschneidung, Pornographie, Kolonialismus und Rassismus, Diskriminierung, der Holocaust, Anarchismus als Gesellschaftsutopie. Offenbar verfolgte der Fotograf seit geraumer Zeit die kritische Gesellschaftsdiskussion auf internationalem Niveau. Doch konnte es in den Bildern nicht allein um diese gehen.

Scheinbar wahllos bannen die Fotos Augenblicke in solchen Seminaren, zeigen die nüchternen Interieurs von Hörsälen und Seminarräumen - Stuhlreihen, Podien, Diaprojektionen, Tafeln, bekritzelt mit vielsagenden Begriffen - und natürlich die Vortragenden und das Publikum.

Bild oben: R. Ganahl, S/L: Fredric Jameson, Modernity, Modernism and Late Modernism, UCLA, Los Angeles, 4/26/01
Intellektueller, multikultureller Habitus
 


Am interessantesten fand ich, was zwischen letzteren vorgeht. Die berühmten Vortragenden setzen ihr Argument (und sich selbst) in Szene, das Publikum lauscht aufmerksam, versunken, angespannt, amüsiert, grübelnd.

Schließlich die obligaten Diskussionsrunden: Manche Zuhörer melden sich zu Wort, greifen zum Mikrophon, setzen auseinander, gestikulieren, vielleicht entspinnt sich ein Diskurs.

Auffallend ist die multiethnische Zusammensetzung des Publikums. Neben Europäern, finden sich immer wieder arabische, asiatische und schwarzafrikanische Teilnehmer. In den Seminarräumen kondensiert eine globale, multiethnische Gesellschaft, um die großen, moralischen Fragen der Welt zu debattieren: globale Ungerechtigkeit, Ausgrenzung und die Vorherrschaft des Westens.

Bild oben: R. Ganahl, S/L: Allan Antliff, Open Road - Anarchism in Vancouver, Bluestockings Books, New York 11/10/04
Widersprüche
 


Aber genau hier regen sich Zweifel. Steht nicht die Idee der Offenheit, des Mitreden-Dürfens, die der Institution des akademischen Seminars inhärent ist, im Widerspruch zum elitären Charakter dieser Veranstaltungen, die durchwegs in akademischen Spitzeninstitutionen der Weltzentren stattfinden?

Und sind nicht gerade im intellektuellen Milieu mächtige Ausschluss- und Hierarchisierungsmechanismen am Werk? Verfügt nicht bloß eine winzige Minderheit über Zugangschancen, ganz zu schweigen vom Teilnehmen- und Mitreden-Können, das ja oft schon am schwachen Englisch oder schierer Schüchternheit scheitert?

Was liegt in diesen Bildern? Zweideutigkeit? Ironie? Implizite Kritik an der akademischen Gesellschaftskritik? Auf der Homepage Rainer Ganahls fand ich später Erläuterungen, die mir zeigten, dass ich mit diesem Eindruck zwar nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch lag.

Bild oben: R. Ganahl, S/L: Michael Fried, Wall and Wittgenstein: Columbia University, New York 11/10/05
...
Lesetipp in eigener Sache
Interessant fand ich die Arbeit Ganahls auch aufgrund eigener Experimente mit dem Ziel Wissenschaft "von außen", in dem Fall literarisch, zu betrachten: Franz Seifert (2005) Auf der Wissenschaftskonferenz, in: sinn-haft 18, "Theorie Erzählungen" Löcker Verlag, Wien, 127-132.
->   http://www.sinn-haft.at/
...
Searching the politics of education
 


Mit den Fotos kombiniert ist außerdem eine in das Monumentale vergrößerte Ausgabeseite einer Google Suche. Der Suchbegriff lautet "the politics of education" und erzielt 145.000 Treffer - ein Gradmesser für seine globale Bedeutung.

Dabei ist der Begriff "education" vieldeutig. Er läßt sich mit "Bildung", aber auch mit "Erziehung" übersetzen.

Ich fragte mich, ob es etwa das ist, was in diesen "globalen Klassenzimmern für Erwachsene", die Ganahl auf seinen Fotoserien zum Leben erweckt, geschieht. Und wenn ja, Erziehung mit welchem Ziel?

Bild oben: R. Ganahl, S/L: Stuart Hall, Ethnicity, Nation and Race at the Millennium, The Institute of Education, University of London, London, 7/1/1999
Reflexion über Wissenschaft und Gesellschaft
 


Zur hier vorgestellten Arbeit Ganahls kann man mehrere Zugänge oder auch gar keinen finden. Ich bezweifle, dass sich meine eigene Deutung mit der Absicht des Autors völlig deckt, halte diese Frage aber auch nicht für entscheidend. (Nähere Ausführungen zu seinem Werk auf Rainer Ganahls Homepage.)

Vielmehr geht es mir um den Hinweis auf das - meiner Ansicht nach - in der zeitgenössischen Kunst deutlich unterrepräsentierte Thema Wissenspolitik. Seit Jahren hat die Forderung nach mehr "Vermittlung" von Wissenschaft - zumeist vorgebracht von wissenschaftspolitischen Akteuren - Hochkonjunktur.

Und da es sich dabei nicht um eine reine PR-Veranstaltung handeln soll, sind dazu mitunter auch "Kritik" und "Kunst" eingeladen. Es lohnt sich hinzuschauen, wenn diese der Einladung einmal nachkommen.

Bild oben: R. Ganal, S/L: Rosalind Krauss, Bruce Nauman, Dia Art Foundation, New York, 5/23/02

[2.10.07]
->   Homepage Rainer Ganahl, Biennale Venedig 2007
->   Alle Beiträge von Franz Seifert in science.ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick