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Franz Seifert
Freier Sozialwissenschaftler in Wien
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Wissen und Bildung 
 
Buchtipps zum Jahreswechsel  
  Ich erlaube mir, drei Literaturempfehlungen für das kommende Jahr abzugeben. Die Auswahl ist eine rein Subjektive.  
Meine Ranking-List 2001
Und zwar empfehle ich die (für mich) besten Bücher des vergangenen Jahres:

1. Joseph Roths "Flucht ohne Ende"
2. Vidiadhar Surapjprasad Naipauls "A bend in the River" (An der Biegung des großen Flusses)
3. (Allerdings mit sehr weitem Abstand zu 1 und 2) Michel Houellebecqs "Les particules elementaires" (Die Elementarteilchen)

Roths (ewige) Geschichte ist die des Heimkehrers, der nach dem großen Krieg keine Heimat mehr vorfindet. Nicht in den sich breit machenden Ideologien, nicht in den neuen Nationen, nicht in der Liebe zu den Frauen.

Der diesjährige Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul erzählt gleichermaßen von Einsamkeit und Entwurzelung. Nur sitzt sein Held in einem afrikanischen Kaff. Dort beobachtet er in einem Zustand intelligenter Paralyse sich selbst und das ihn umgebende politische Chaos. Bis auch er zum Flüchtling wird.

Beeindruckt, wenn auch auf ganz andere Art, haben mich auch Houellebecqs "Elementarteilchen", eine mitunter etwas brachiale, aber meist zum Schmunzeln anregende Abrechnung mit der Achtundsechziger Bewegung. Houellebecqs Stärke liegt gewiss nicht in der Sprache, noch in der Herstellung von Empathie. Vielmehr liegt sie in der Zielgenauigkeit und Schonungslosigkeit, mit der er in den kulturellen Wunden der okzidentalen Gesellschaft bohrt.
Und was hat das mit Wissenschaft zu tun?
Nun, eben rein gar nichts. Das Literarische ist "das Andere" der Wissenschaft. Es ist das Fiktive, Seduktive, Mehrdeutige, der Makel, von dem sich der auf seinen Ruf bedachte "seriöse Experte" gar nicht rein genug waschen kann. Und eben diesem Anderen der Wissenschaft will ich hier meine Referenz erweisen.

Denn fest steht - zumindest für mich -, dass auch das Literarische "Wahrheit" vermittelt. Der k&k-Sprachzauberer Roth, der Seelenchirurg Naipaul, der Provokateur Houellebecq - Sie alle teilen uns etwas "Wahres" über uns in dieser Welt mit. Etwas, das uns hilft, uns in dieser Welt besser zu begreifen.

Aber tut das nicht auch die Wissenschaft? (Für die man hier eigentlich Leseempfehlungen erwarten würde.) Ich bestreite es.
Wissenschaftliche versus literarische Wahrheit
Die Wissenschaften, mithin die "Lebenswissenschaften", sagen uns im Grunde wenig zu dem, was man gemeinhin "das Leben" nennt. Im Gegensatz zum Literarischen mit seiner Kapazität mitunter überwältigende Identifikationsprozesse in Gang zu setzen.

Im Literarischen können wir uns wiederfinden. Suchen wir uns hingegen in der Wissenschaft, zerfällt unser Bild zu einem Scherbenhaufen aus Theorien, Wahrscheinlichkeiten und der einen oder anderen "gesicherten Tatsache".

Sind wir auf uns selbst verwiesen, verliert das Endloslabyrinth wissenschaftlicher Verweise jede Bedeutung. Daran ändert auch die derzeitige Hochkonjunktur medialer Wissenschaftsvermittlung nichts. Wie ein Dauerregen belangloser Aha-Erlebnisse prasselt sie auf uns nieder.
Fragmentierung versus Ganzheit
Die Wissenschaft fragmentiert das Bild der Welt. Das Literarische bringt Ganzheiten hervor. Dabei vermag es, wie Milan Kundera in "Die Kunst des Romans" betont, sämtliche Denkformen und Perspektiven in sich aufzunehmen.

Michel Houellebecq beispielsweise greift in den "Elementarteilchen" ausgiebig auf Soziologie und Molekularbiologie zurück. (Einer seiner Helden, besser gesagt: Anti-Helden, ist Molekularbiologe.) Womit Houellebecq übrigens zu einem der unterhaltsamsten Wissenschafts-Popularisierer unserer Tage wird.
Mehrdeutigkeit und Exploration
Mehr mit "dem Leben" zu tun hat das Literarische auch aufgrund der ihm innewohnenden, aus Witz und Metapher stammenden Mehrdeutigkeit. Ein weiterer Kontrast zur Wissenschaft, die nach Kräften bemüht ist, jegliche Unschärfe zu eliminieren.

So macht uns das Literarische selbst zu Interpreten, zu Explorateuren einer erdichteten Welt, die, erfasst sie uns, ihrerseits zum Wahrnehmungs- und Reflexions-Vehikel in dieser unserer Lebenswelt wird.

Dass sich zum Narren macht, wer tatsachlich glaubt, was in den Ritterromanen geschrieben steht, lehrt uns schon die Geschichte von Don Quichote. Aber ebenso, dass wir etwas Wesentliches versäumt haben, haben wir dem Fiktiven niemals gestattet, Besitz von uns zu ergreifen.
Wie dem auch sei: Lesen Sie!
Aber was wiege ich hier überhaupt Wissenschaft gegen Belletristik auf? Zwei mittlerweile perfekt getrennten Sphären angehörende, auf separaten Märkten gehandelte Kulturleistungen.

Vielleicht weil ich den Eindruck habe, dass die eine auf Kosten der anderen Sphäre expandiert und dabei etwas Kostbares verlorengeht.

Vielleicht auch nur aus Sentimentalitätsgründen. Man kennt die Tricks der Literaten eben nicht. Die Literaturwissenschaft könnte da gewiss Aufklärung bringen.

Aber man will sie gar nicht kennen. In einer durch und durch verwissenschaftlichten, entzauberten Welt, will man unaufgeklärt bleiben, um wenigstens diesem letzten Zauber anheimfallen zu können.

Wie dem auch sei. Ihr kommendes Jahr wird, so meine ich, ein reicheres, wenn Sie meinen - rein subjektiven - Empfehlungen nachkommen.
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