Host-Info
Franz Seifert
Freier Sozialwissenschaftler in Wien
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Wissen und Bildung .  Leben 
 
Wie schafft die Molekularbiologie Erkenntnis?  
  Wie entsteht in der Molekularbiologie "Wissen"? Was bedeutet in dieser Disziplin "Erkenntnis"? Diesen Fragen geht der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger nach, etwa in seiner "Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas".  
Zu dem Wenigen, das ich mir an Fachliteratur auf meine Reise mitgenommen habe, gehören einige Texte Rheinbergers.

Vormals Professor für die Geschichte der Biologie an der Universität Salzburg und gegenwärtig Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, dürfte sich Rheinberger auf dem besten Weg dazu befinden, eine Fixgröße in der aktuellen Epistemologie und Wissenschaftsforschung zu werden.
Rheinberger: Empiriker und Theoretiker
Rheinberger ist beides: Akribischer Empiriker und stringenter Theoretiker.

Der Empiriker untersucht "dicht an den Quellen" die Vorgänge in Laboratorien, den Orten der sehr materialen, dinglichen Wissensproduktion der Molekularbiologie.

Der Theoretiker baut ein terminologisches Repertoire auf, das unser herkömmliches Sprechen und Denken über wissenschaftliche Erkenntnisprozesse auf eigentümliche Art verfremdet, ja annulliert.

So ist etwa die von ihm jüngst rekonstruierte Geschichte der "synthetischen Proteinsynthese" keine Geschichte von Akteuren und Ideen sondern von "Dingen und Spuren".
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Buchtipp
Hans-Jörg Rheinberger
"Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas."
Erschienen 2001 bei Wallstein (Göttingen) in der Reihe "Wissenschaftsgeschichte"
344 Seiten mit Abbildungen
ISBN: 3-89244-454-4
Preis: 423,- ATS
->   Wallstein: Zum Buch, Autorenbiografie und Pressestimmen
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Keine Autoren, aber (Kon-)Texte. Keine Ideen, aber (Be-)Deutungen
Gemeint ist damit, dass Rheinberger nicht nach Erfindern und Entdeckern als den "Autoren" wissenschaftlicher Erkenntnis fahndet. Ebensowenig dokumentiert er die Karrieren von "Ideen" bzw. Theorien.

Vielmehr sind es, auf den ersten Blick unscheinbare, technische Verfahren und der Bedeutungswandel, die verschiedenen Kontextualisierungen, die diese durchmachen, denen seine Aufmerksamkeit zuteil wird. Diese Bedeutungsvielfalt lässt sich etwa am Begriff "Gen" illustrieren.

Ein Biophysiker würde es anhand von Atomkoordinaten beschreiben, ein Biochemiker sich auf seine sterochemischen Eigenschaften konzentrieren. Ein Evolutionsbiologie hingegen sieht darin den Gegenstand von Mutationen, von sich über Generationen erstreckenden Häufigkeitsänderungen.

Ähnlich zeichnet Rheinberger auch für das untersuchte In-Vitro-System zur Proteinsynthese eine "fließende Bewegung von der Krebsforschung in die Biochemie und von dort in die Molekularbiologie" nach.
Ein erkenntnistheoretisches Sowohl-als-auch
Ohne billige Kompromisse zu suchen, steuert Rheinberger differenzierte Mittelwege zwischen den Kontrastpolen aktueller Erkenntnistheorie. Das vor allem, indem er ein "Sowohl-als-auch" zulässt.

Im eigenen Vorgehen sowohl Empiriker als auch Theoretiker, ist er in seinen Interpretationen sowohl i.w.S. "Konstruktivist", der an Geschichtlichkeit und Gemachtheit des Wissens, also dessen soziale Determination glaubt, als auch Verteidiger der realen Möglichkeit von Erkenntnisgewinn.

Dass diese besteht, beweist das Eintreffen von Unerwartetem, von Überraschungen. Wäre Wissen allein soziales Konstrukt, würden Erwartungen nur ständig reproduziert.

Auch die Frage, was nun eigentlich den wissenschaftlichen Fortschritt antreibt - die Technologie, der unermüdliche Suchprozess nach effizienter Problemlösung, oder ein autonomes, wissenschaftliches Erkenntnisstreben - beantwortet Rheinberger mit: sowohl als auch.

Einerseits hat erst die technische Verwertung von Wissen der Wissenschaft ihren besonderen Status verliehen. Andererseits ist diese mehr als bloß ausführendes Organ der Technologie.
Wissenschaft als Fleckenteppich mit ungewissem Ausgang
Das Bild, das Rheinberger von der Molekularbiologie zeichnet, ist von einer außerordentlichen, oft verwirrenden Genauigkeit. Es ist das einer großen, kollektiven, unkoordinierten Bastelarbeit.

Deren Bausteine sind "Experimentalsysteme" (wie die In-Vitro-Proteinsynthese) oder "epistemische Dinge". Was aus dieser Bastelei wird, ist nicht vorherzusagen.

Nur konsequent beansprucht Rheinberger auch, aus seinen eigenen Untersuchungen und Konzepten keine Vorhersagen ableiten zu können. Für die Wissenschaft wie auch jene, die über sie nachdenken, bleibt die Zukunft offen und voller Überraschungen.
->   Sämtliche Artikel von Franz Seifert in science.orf.at
->   Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte
->   Falter.at: Porträt Hans-Jörg Rheinberger
 
 
 
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