Host-Info
Franz Seifert
Freier Sozialwissenschaftler in Wien
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Gesellschaft 
 
Genfood: demokratiepolitische Chance und Nagelprobe  
  Die bekannten Argumente, mit denen die US-Regierung gegenwärtig EU-Kommission und Mitgliedstaaten zum "Genfood" bekehren will, bedürfen kaum mehr der Gegenrede. Eine Frage sollte bei der transatlantischen Diskussion aber nicht unter den Tisch fallen: Die Frage nach der - europäischen - Demokratie.  
Weltmarkthunger
Bekannt ist: Die moralische Entrüstung über Europas "Genfood"-Aversion hat weniger mit dem "Hunger der Welt" als mit dem Hunger der US-Ökonomie nach Weltmärkten zu tun. Letzterer ist bei der landwirtschaftlichen Gentechnik groß, möglicherweise aber auch schwer zu stillen.

Denn einerseits haben die USA schon vor Jahren einen uneinholbaren Vorsprung im Biotechnologiewettlauf errungen. Andererseits aber könnte nun ein erschwerter Zugang zum EU-Markt die Investitionen der US-Bioindustrien und der ganz auf Export getrimmten US-Landwirtschaft zum Flop werden lassen.

Noch schlimmer: Weitere potenzielle Importländer könnten sich - etwa aus Protektionismus oder Gründen der Marktverflechtung mit der EU - deren restriktivem Risiko- und Kennzeichnungsregime anschließen. Somit brächen auch diese Märkte weg.
Unrentable Konsumentenfreiheit
Bekannt ist ferner, dass es den derzeitigen EU-Regelungen eben nicht um Verbot - ein solches wäre vor der WTO tatsächlich nicht zu rechtfertigen - sondern um rigorose Kennzeichnung geht. Erst diese schafft die Wahlmöglichkeit.

Blockiert ist der europäische Markt also nicht, nur würde das europäische Kennzeichnungsregime von den US-Importeuren getrennte Produktionswege erfordern. Durch sie würde das Geschäft mit den Industriesaaten unrentabel.
Eine innere Angelegenheit
Doch der springende Punkt im transatlantischen Gen-Konflikt ist aber eine "innere Angelegenheit" der EU: die ihrer Demokratisierung. Gerade das Beispiel der Gentechnik in Landwirtschaft und Lebensmitteln führt ebenso die Notwendigkeit dieser Demokratisierung vor Augen wie auch die Chance, die sich ihr derzeit bietet.

Notwendigkeit, weil sämtliche Entscheidungen in diesen Politikfeldern auf europäischem Niveau getroffen werden. Die Steuerungs- und Regelungskapazität einzelner Regierungen geht damit gegen Null - so auch deren Glaubwürdigkeit. Das zeigte sich etwa rund um das österreichische Gentechnik-Volksbegehren.

Die zuständigen Behörden konnten damals immer nur auf die in Revision befindlichen EU-Richtlinien, an die man gebunden war, verweisen. Das geflügelte Wort vom "nationalen Alleingang" hatte mehr mit politischer Rhetorik als einem gangbaren Ausweg zu tun.
Europäische Öffentlichkeit(en)
Was auf Ebene des Nationalstaats an demokratischer Glaubwürdigkeit schwindet, kann indes auf der europäischen Ebene wieder gewonnen werden. Der Gentechnik-Konflikt bietet der EU die besondere Gelegenheit dazu. Denn im Zuge des Konfliktes ist etwas geschehen, das keineswegs selbstverständlich ist für EU-Politik: Es kam zur Bildung einer europäischen Öffentlichkeit.

Dass es eine solche Öffentlichkeit im Allgemeinen nicht gibt, Europa vielmehr in ein Mosaik nationaler Öffentlichkeiten zerfällt, gilt als einer der größten Hemmschuhe des EU-Demokratisierungsprozesses.

Zwar verlief auch die europäische Gentechnik-Kontroverse innerhalb dieser nationalen Arenen, etwa in Österreich, Frankreich, Italien, Griechenland, Dänemark, Großbritannien, Belgien und Irland, doch, und das ist ihre Besonderheit, geschah das (im Schatten der BSE-Krise) annähernd gleichzeitig und unter Artikulation immer der gleichen Forderung: strikte Kennzeichnung.
Chance und Nagelprobe
Wenn es also eine europäische "öffentliche Meinung" und klare Präferenz gibt, dann diese. Und wenn die EU-Institutionen dieser Forderung nachkommen, dann nutzen sie damit lediglich die Chance, sich als demokratisch verantwortliche Akteure zu präsentieren.

Gleichzeitig gibt es für sie keinen Weg zurück. Selbst wenn die WTO in der von den USA angestrengten Klage gegen die EU-Regelungen entscheidet, lassen die Lebensmittelkrisen der vergangenen Jahre deren Aufweichung kaum mehr zu, will man weitere Vertrauenskrisen vermeiden. Die Gentechnik-Regelungen sind zur demokratiepolitischen Nagelprobe geworden.
Man wird verstehen
Es mag nun durchaus sein, dass die strikten europäische Kennzeichnungs- und Risikoregelungen "wissenschaftlich unbegründet" seien, wie US-Experten versichern. Doch hat "politischer Wille" diese Unwissenschaftlichkeit nun einmal an sich.

Jedenfalls ist die Artikulation dieses Willens die - keineswegs selbstverständliche - Voraussetzung für das Zustandekommen und Funktionieren einer jeden Demokratie, auch einer entstehenden supranationalen, europäischen Demokratie. Und dafür wird man in der ältesten Demokratie der Welt gewiss Verständnis haben.
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Hintergrundinformation
Zu Geschichte, Akteuren und Dynamik des transatlantischen Genfood-Konflikts:
F. Seifert 2002 "Gentechnik - Öffentlichkeit - Demokratie. Der österreichische Gentechnik-Konflikt im internationalen Kontext." Profilverlag: München. ISBN 3-89019-546-6
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Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   EU: Strenge Kennzeichnung von Gentech-Produkten (2.7.03)
->   Gentech-Kennzeichnung: Was heißt das für Verbraucher? (29.11.02)
 
 
 
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