Host-Info
Franz Seifert
Freier Sozialwissenschaftler in Wien
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Wissen und Bildung .  Gesellschaft .  Leben 
 
Biopolitik: Atlantischer Graben und europäische Öffentlichkeit  
  Das bestimmende Ereignis des Jahres 2003 war die Intervention der USA im Irak. Für Europa bedeutete sie eine nie da gewesene Belastung des Verhältnisses zu seinem mächtigen atlantischen Gegenüber. Bei etwas genauerem Hinsehen lässt sich so ein Bruch allerdings auch am Feld der Biopolitik feststellen.  
Eskalation im transatlantischen Gentechnik-Streit
Neben sehr anregenden Recherchen im islamischen Raum beschäftigte mich die gewandelte geopolitische Situation in diesem Jahr auch in meinem bisherigen Forschungsgebiet: der Kontroverse um die Gentechnologie.

Auch auf diesem Konfliktfeld markiert 2003 einen deutlichen Bruch zwischen diesen beiden Polen der Triade. Denn im Frühjahr, kurz nach dem Irak-Feldzug, legte die US-Regierung bei der WTO gegen die EU-Blockade gentechnisch veränderter Produkte Klage ein. Damit eskaliert ein Handelskonflikt, der sich bereits seit dem politischen EU-Moratorium vom 1999 anbahnt.
Öffentlichkeitskatastrophen ...
In den USA waren bis Ende 2002 56 modifizierte Pflanzen zugelassen, die auf 39 Mio. Hektar kommerziell angebaut wurden. Die EU steht demgegenüber bei einer Handvoll Zulassungen und hat den Schritt zum kommerziellen Gentech-Anbau noch nicht getan. Dort setzt man also voll und ganz auf die landwirtschaftliche Gentechnik, hier ist man aus dieser praktisch ausgestiegen. Wie ist es zu dieser Divergenz gekommen?

Erstens sorgte die BSE-Krise Mitte der 90er Jahre für eine enorme Aufwertung der Konsumentenpolitik in der EU. In der im Wesentlichen über ihr Wirtschaftswachstum und Massenkonsum legitimierten EU erkannte man die essentielle Bedeutung des Konsumentenvertrauens zur Sicherung breiter Akzeptanz. Daher legte man sich auf eine rigorose Gentechnik-Kennzeichnung fest.
... und strukturelle Divergenzen
Zweitens divergiert die EU-Landwirtschaftspolitik grundlegend von jener der Vereinigten Staaten. Letztere konkurriert mittels hochtechnologischer Massenproduktion am Weltmarkt. Die Schlüsseltechnologie Gentechnik bietet hier entscheidende Wettbewerbsvorteile, während interne "Rationalisierungseffekte" - die Verdrängung bäuerlicher Kleinbetriebe durch eine industrialisierte Plantagenwirtschaft - hingenommen werden.

Die EU hingegen setzt (zum Leidwesen vieler Entwicklungsländer) eher auf Protektionismus. Außerdem hat die Gemeinsame Agrarpolitik unter Franz Fischler offenbar die Wendung zu einer ersten europäischen Sozialpolitik genommen: Subvention wird von Produktivität abgekoppelt. Hauptsache ist der öko-soziale Fortbestand der Landwirtschaft. Eine weitere Produktionssteigerung durch die Gentechnik passt nicht recht in dieses Konzept.
Eine festgefahrene Angelegenheit
Wie auch immer das WTO-Verfahren ausgehen wird, eines ist so gut wie sicher: Die EU wird von ihrer strikten Regelung, die der US-Bioindustrie das Leben so schwer macht, nicht abgehen. Die Macht der NGOs und der EU-Konsumenten/Bürger ist hier zu groß, zu konzentriert.

Klar ist aber auch, dass die US-Wirtschaft, durch den "Absturz" dieser strategischen Technologie empfindlich getroffen, zuviel in deren Entwicklung investiert hat, als dass sie von ihr abgehen könnte. Zu groß wäre der Verlust.

Neben einer expansiven Biopolitik in den "Rest der Welt" (insbesondere der "Dritten Welt") wird sie daher weiterhin auf der Richtigkeit und "Wissenschaftlichkeit" der US-Regelung beharren.
Synchronisierte Öffentlichkeiten ...
Ein Gutes hat der Konflikt jedenfalls für Europa. Denn in dessen Verlauf kam es, wie ich empirisch nachweisen konnte, zu einem komplexen Gleichlauf, einer Synchronisierung, mehrerer nationaler Öffentlichkeiten.

Das ist ein Phänomen, das hier zwar nicht zum ersten Mal aufgetreten ist, das man normalerweise auch kaum bemerkt: Denn da man Ereignisse gewöhnlich über die Medien aus nationaler Perspektive dargestellt bekommt, ist man sich meist nicht klar darüber, ob ähnliche Meinungsbildungsprozesse auch in anderen Mitgliedsländern laufen.
... sind auch eine Öffentlichkeit
Aus theoretischer Sicht ist so ein Gleichlauf auf europäischer Ebene aber alles andere als nebensächlich. Denn das Fehlen einer gemeinsamen Öffentlichkeit wird (oft gemeinsam mit dem Fehlen einer europäischen "Identität") von vielen als eines der Haupthemmnisse für die Demokratisierung der EU angesehen.

Zumindest ansatzweise und vorübergehend dürfte sich im Zuge des Gentechnik-Konflikts eine solche gemeinsame Öffentlichkeit bzw. deren funktionales Äquivalent gebildet haben. Möglicherweise ein Vorbote ähnlicher Vorgänge, die aus der EU - vielleicht einmal - eine "richtige" Demokratie machen könnten.
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Zum genaueren Nachlesen
Seifert, F. (2003) Transatlantischer Gentechnik-Streit & Globalisierung, in: INTERNATIONAL 6.

Seifert, F. (2003) Beinahe-Gleichzeitigkeit. Die europäische Anti-Gentechnik-Welle und das Öffentlichkeitsdefizit der EU, in: Berliner Journal für Soziologie 4.
->   Sämtliche Artikel von Franz Seifert in science.ORF.at
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