Host-Info
Heidemarie Uhl
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften
 
ORF ON Science :  Heidemarie Uhl :  Gesellschaft 
 
"Anschluss"-Gedenken 2008: Abschied von der Opferthese  
  "Es ist ein gutes Land", proklamierte am 11. März die Titelseite einer österreichischen Boulevardzeitung und zitierte - durchaus ungewöhnlich für einen Aufmacher - 28 Zeilen aus Franz Grillparzers "König Ottokars Glück und Ende" unter dem Motto "der Österreicher denkt sich sein Teil und lässt die anderen reden." Eine führende Tageszeitung forderte anlässlich des Märzgedenkens durchaus provokant "Österreichs Anschluss an Europas Zukunft" und warnte vor der "Volksverhetzung" durch "Vergangenheitsbewältiger" - "Wahrheitsjünger, Hassprediger und Moralapostel".  
Diese Zitate stammen nicht aus dem Gedenkjahr 2008, sondern vom März 1988, als der Kampf um die Erinnerung seinen Höhepunkt erreichte. Österreich war gespalten in zwei geschichtspolitische Lager - Verteidiger der Opferthese auf der einen, das "andere Österreich" mit seiner Forderung nach Auseinandersetzung mit der verdrängten NS-Vergangenheit auf der anderen Seite.
Ein Nachkriegsmythos
2008 ist die Berufung auf die Opferthese nur noch eine Minderheitenposition, ein Argument aus dem Museum der Nachkriegsmythen, das in den relevanten gesellschaftlichen Deutungsinstanzen, vor allem auch in der Geschichtswissenschaft, praktisch keinen Rückhalt hat.
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Umso bemerkenswerter ist es, wenn Otto Habsburg bei einer aktuellen Gedenkveranstaltung sagt: "Es gibt keinen Staat in Europa, der mehr Recht hat sich als Opfer zu bezeichnen, als es Österreich gewesen ist" - und dabei von den Zuhörern mit standing ovations bedacht wird.
->   Habsburg plädiert für Opferrolle Österreichs
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Verweis auf die Moskauer Deklaration
Dass der Abschied von der Opferthese von heftigen Konflikten begleitet war, ist nicht verwunderlich. Die Berufung auf den Status als "erstes Opfer", mit Verweis auf die Moskauer Deklaration in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, berührt das zentrale Narrativ des nationalen Selbstverständnisses der Zweiten Republik.

Immerhin hatte das offizielle Österreich von 1945 bis 1988 - und darüber hinaus - das Argument von Österreich als "erstem Opfer" Hitlerdeutschlands vertreten: 1938 von deutschen Truppen überfallen und besetzt, sieben Jahre unter der Fremdherrschaft der braunen Barbaren schmachtend.

Dass die Jahre 1938-1945 nicht zu "unserer" Geschichte gehören, darüber gab bereits die Kapitel-Einteilung der Schul-Geschichtsbücher klar Auskunft: Die österreichische Geschichte endete im März 1938 und begann wieder im April 1945. Was dazwischen lag - der Nationalsozialismus und seine Verbrechen - zählte zur deutschen Geschichte.
"Anschluss" innen und außen
2008 lassen allein die vielfach reproduzierten Bilder der Begeisterung der österreichischen Bevölkerung für den "Anschluss" an Nazi-Deutschland keinen Zweifel daran, dass die Opferthese unhaltbar ist.

Angesichts der medialen Präsenz des "Anschluss"-Jubels erscheint es nahezu notwendig, in Erinnerung zu rufen, dass es nicht die Begeisterung der ÖsterreicherInnen war, die den "Anschluss" herbeigeführt hat. Der "Anschluss" von innen war nur möglich durch den "Anschluss" von außen, wie Gerhard Botz bereits 1988 formulierte.
Im europäischen Trend
Dass die NS-Vergangenheit einer grundlegenden Neubewertung unterzogen wird, ist allerdings kein auf Österreich beschränktes Phänomen. Der New Yorker Historiker Tony Judt hat den Zerfall der Nachkriegsmythen und die Neuverhandlungen des Geschichtsbildes seit den 1980er Jahren als transnationales Phänomen in Europa - und darüber hinaus - charakterisiert.

Der Abschied von der Opferthese ist insofern die österreichische Variante einer gesamteuropäischen Transformation des Geschichtsbewusstseins.
Neue Erinnerungskultur
Die dabei entstehende Erinnerungskultur ist etwas durchaus Neues in der Geschichte des nationalen Gedächtnisses, das seit dem 19. Jahrhundert den Stolz auf die Geschichte der Nation und/oder den eigenen Opferstatus beschworen hat.

Mit der Erinnerung an die Involvierung der eigenen Gesellschaft in die NS-Verbrechen hat sich seit den 1980er Jahren das neue Format des "negativen Gedenken" entwickelt, in dessen Zentrum die historische Schuld von Nationen steht. Dabei geht es nicht mehr darum, zu erinnern, was "uns" von den "anderen" angetan wurde, sondern was "wir" den "anderen" angetan haben.

Mit diesem Schuldgedächtnis verbindet sich ein neuer Maßstab der politischen Kultur. Die Reaktionen auf die Konfrontation mit schuldhaften Ereignissen der Vergangenheit - etwa jüngst auf das Buch von Jan Gross über Nachkriegspogrome in Polen - wurden in den letzten Jahren zu einem Indikator für die zivilgesellschaftliche Verfasstheit von Gesellschaften.
Mittäterschaft ist unbestritten
Österreich, das zeigen die bisherigen Aktivitäten zum "Anschluss"- Gedenken, ist 2008 in diesem europäischem Mainstream angekommen. Seit der Waldheim-Debatte 1986 und der Bildung einer Koalitionsregierung mit der FPÖ 2000 hat sich Österreichs Image als "Land der Verdrängung", als "Nazi-Land" und "brauner Fleck" auf der Landkarte des europäischen Gedächtnisses verfestigt.

2008 wird mit einer Vielzahl von Medienberichten, Veranstaltungen, Ausstellungen - von der Oper in der NS-Zeit bis zu den Bibliotheken während des Nationalsozialismus - deutlich, dass die kritische Auseinandersetzung mit einer verdrängten NS-Vergangenheit weitgehend zu einer Maxime der politischen Kultur geworden ist.

Dass die österreichische Gesellschaft 1938-1945 integraler Teil des NS-Herrschaftssystems war und Mitverantwortung an den Verbrechen des NS-Regimes trägt, ist nun weitgehend unbestritten. Was in den 80er Jahren noch zu politisch und emotional aufgeladenen Konflikten führte, ist heute geschichtspolitischer Konsens, der im öffentlichen Diskurs kaum noch Widerspruch hervorruft.
Offizielle Position noch ausständig
Das offizielle Österreich hat sich allerdings öffentlich noch kaum positioniert. Mit einiger Spannung können daher die Erklärungen der führenden RepräsentantInnen der Republik bei der "Anschluss"-Gedenkfeier im Parlament am 12. März erwartet werden.

Ob dabei die Re-Inszenierung der traditionellen parteipolitischen Konfliktlinien um den März 1938 im Vordergrund steht oder ob sich Österreich im Rahmen einer transnationalen europäischen Erinnerungskultur positionieren kann, wird auch in der internationalen Öffentlichkeit mit Aufmerksamkeit verfolgt.

Mit Schuschniggs Motto "Gott schütze Österreich" (Schuschniggs Aussage, kein deutsches Blut vergießen zu wollen, wird dabei geflissentlich übersehen) die Opferthese zu reaktivieren, erscheint angesichts der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte als provinzielles Festhalten an den Positionen der Nachkriegszeit.

2008 lässt sich mit der Berufung auf die Opferthese kein patriotisches Geschichtsbild begründen - sie zeugt vielmehr von der Ignoranz all dem gegenüber, was gegenwärtige europäische Erinnerungskultur ausmacht.

[10.3.08]
Mehr zum Jahr der Zeitgeschichte 2008:
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->   Dollfuß für 40 Prozent "unbekannt"
->   Holocaust-Gedenktag: Zeichen für Wandel der Erinnerung
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Buch zum Thema
Am 10.3.2008 wurde das Buch "1938 - Auftakt zur Shoah in Österreich. Orte - Bilder - Erinnerungen" präsentiert. Es zeichnet die Erfahrungen von jüdischen WienerInnen und ÖsterreicherInnen vom ¿Anschluss¿ im März 1938 bis zum Ende dieses Jahres nach. In einer Zusammenstellung von Bildern, Dokumenten und autobiografischen Erinnerungsfragmenten rückt das individuelle Erleben der schrittweisen, gewaltsamen Entrechtung des Jahres 1938 in den Vordergrund.
->   Mehr zum Buch (Milena-Verlag)
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