Host-Info
Reinhold Wagnleitner
Institut für Geschichte, Universität Salzburg
 
ORF ON Science :  Reinhold Wagnleitner :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Zeit-Geschichte in den Zeiten der Deregulierung  
  Die (nicht nur) den Universitäten verordneten neoliberalen Rosstäuscherkuren sowie die aus den untersten Schubladen auftauchenden dienstrechtlichen Taschenspielertricks ängstigen und bedrohen gegenwärtig einen großen Teil des wissenschaftlichen Personals an Österreichs Universitäten.  
Kein neues Phänomen
Angst, Lähmung, Lethargie oder gar Apathie sind aber ganz unzweifelhaft die schlechtesten Ratgeber, wenn es darum geht, intelligente und kreative Strategien zur Abwehr der im globalen Maßstab immer rücksichtsloser durchgesetzten Deregulierungspolitik zu entwickeln.

Zwei Grundvoraussetzungen dürfen angesichts des österreichischen Hangs zur Nabelschau und der allgemeinen Unkenntnis gegenüber internationalen Verknüpfungen allerdings nicht übersehen werden: Weder handelt es sich bei diesen Fragen um ein vorwiegend österreichisches Phänomen, noch wurden sie von der gegenwärtigen Bundesregierung erfunden, obgleich sie diese mit besonderer Härte verficht.
Die ''neue'' Weltordnung ist alles andere als neu
Die Erfüllung des Diktats der Welthandelsorganisation (WTO) führt schließlich nicht nur überall zur Zerstörung der staatlichen Sozial- und Bildungssysteme, sondern erodiert die gesamte gesellschaftliche Infrastruktur.

Ein Lokalaugenschein in weiten Teilen Großbritanniens oder in den USA, beide seit mehr als zwanzig Jahren Pionier-Gesellschaften der Deregulierung, ist manchem glühenden österreichischen Vertreter der Verheißungen schrankenloser Liberalisierung dringendst empfohlen.

Der Vergleich macht sie sicher. Sicher.

Denn schließlich ist Deregulierung ja nichts anderes als ein Code-Wort zur Umschreibung der gesellschaftlichen Verantwortungslosigkeit internationaler Großkonzerne.
->   WTO
->   Abkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation, Marrakesch, 15. April 1994
->   World Trade or World Domination?
->   Top Ten Reasons to Shutter the WTO
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Andreas Berndt, Gerlinde Breiner, Martina Kirchmayr und Thomas Roithner (Hg.), Der totale Markt: Gefahr für Sozialstaat und Demokratie (Wien: ÖGB Verlag, 2001)
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Das Ende vom Ende der Geschichte
Selbstverständlich hat damit die Geschichte nicht ihr vielzitiertes Ende erreicht. Allerdings tritt der schrankenlose, korporative Kapitalismus durch die Schaffung der Neuen Armut, der Förderung der internationalen Verschuldung, der massivsten Umweltzerstörungen in der Geschichte der Menschheit und des sich seit geraumer Zeit abzeichnenden Zusammenbruchs des Weltfinanzsystems immerhin in seine bisher heißeste Phase: Er hat ein Stadium erreicht, in dem er nichts anderes mehr repräsentiert, als einen ungenierten Sozialismus für die Reichen.
Die Lage ist also hoffnungslos, ...
Während sich die mindere Qualität der Reformvorschläge im Grunde nicht einmal eignet, auch nur halbwegs intelligenten Sechsjährigen beim Tausch von Pókemon-Karten Angst einzuflößen, so gebieten einerseits die seit den frühen 1990er Jahren laufenden Vorbereitungen der tiefen Einschnitte, andererseits die Undurchsichtigkeit ständig wechselnder, als Selbstläufer wiederkehrender Positionen doch Anlass zur Besorgnis um Österreichs Bildungssystem.

Denn die sich immer fieberhafter akzelerierenden Drehungen und Windungen entwickeln einen Sog, in dessen Strudel die österreichischen (Hoch-)Schulen wie in einem unentrinnbaren Mahlstrom zu verschwinden drohen.
... aber nicht ernst
Dazu haben die Verhandlungen aus strukturellen Gründen den Charakter einer sprichwörtlichen Zitterpartie, denn die Universitätslehrerinnen verfügen beim Verhandlungspoker nur über ein schlechtes Blatt.

Die Verantwortung dafür, dass die Vertreter sowohl des Universitätspersonals als auch der Studierenden nur mit dem schweren Handicap gebundener Hände in den Ring steigen können, haben all jene Universitätsmitglieder zu übernehmen, für die Solidarnosz noch immer ein polnisches Fremdwort darstellt.
Aber: der Lenz ist da, und die Historiker schlagen aus.
Aus der Karl-Franzens-Universität Graz erreicht uns trotz der allgemeinen Misere die frohe Kunde, dass Gerald Lamprecht und Roman Urbaner, zwei junge, innovative Historiker, mehr oder weniger aus dem Nichts (der Kundige weiß, die Betonung liegt auf: weniger), ein veritables Gesellenstück hingelegt haben.

Mit der Nummer 1/2001 des vierteljährlich erscheinenden ''eForum zeitGeschichte'' liegt damit Österreichs erstes Zeitgeschichte-Online-Journal mit einem anspruchsvollen Programm vor. Den Schwerpunkt der ersten Nummer bildet das Thema ''Medizin'': von ''Wilder Euthanasie'' (Peter Schwarz), über "Forschen ohne Skrupel" (Herwig Czech), die ''Militärspsychiatrie im Ersten Weltkrieg'' (Oswald Überegger) und ''Jüdische Studentinnen der Wiener Medizinischen Fakultät'' (Michaela Raggam) reicht der Bogen.

Neben Rezensionen bietet dieses Publikationsforum auch eine Rubrik ''werkstatt'' zur Vorstellung neuer Forschungsprojekte.
->   eForum-zeitGeschichte
Zeitgeschichte-Informations-System
Ein weiterer Beitrag von Ingrid Böhler beschäftigt sich mit dem Zeitgeschichte-Informations-System (ZID) des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Zum Team um Rolf Steininger gehören Ingrid Böhler, Eva Pfanzelter, Michael Kröll und Peter Kuppelwieser. Seit 1995 gehört das ZID zu den Pionier-Projekten der zeitgeschichtlich orientierten Internet-Angebote.

Das ZID bietet eine Datenbank über eine große Anzahl historischer Webseiten und verwaltet ca. 700 zeitgeschichtlich relevante Links. Darüber hinausgehend sorgen ein Internetkalender, Quellensammlungen und Chronologien zur österreichischen Zeitgeschichte bzw. zur europäischen Integration sowie eine Dokumentation zur Geschichte Südtirols für steigende Zugriffszahlen.
->   Zeitgeschichte-Informations-System
Magical History Tour
Zu guter Letzt sei noch auf die hervorragend gemachte ''History Show (Neue Medien in der Geschichtwissenschaft)'' hingewiesen. Diese aus einer Lehrveranstaltung des Wiener Zeitgeschichte Instituts von Robert Buchschwenter und Georg Tiller hervorgegangene Website wurde von folgendem Team nicht-institutionalisierter Historikerinnen und Historikern gestaltet: Prisca Olbrich, Benedikt Kloss, Claudia Gnida und Brigitte Leucht. Das Projekt bietet den theoretisch und ästhetisch besonders gelungenen Vergleich der Darstellungsmöglichkeiten von Geschichte in den Medien Buch, Ausstellung, Film, CD-ROM und Internet.
->   History Show
All diese innovativen geisteswissenschaftlichen Produkte brauchen, wie so vieles an Österreichs wissenschaftlichem Output, den internationalen Vergleich weit weniger zu scheuen, als die einheimische mediale und politische Ignoranz.
 
 
 
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