Host-Info
Reinhold Wagnleitner
Institut für Geschichte, Universität Salzburg
 
ORF ON Science :  Reinhold Wagnleitner :  Gesellschaft .  Technologie 
 
10 ½ Thesen zum World Wide Web (W3), Teil zwei  
  Eine zentrale Metapher der Informations-Gesellschaft lautet (nicht ganz umsonst), dass sich Technologien immer ''on the cutting edge'' (also: an vorderster Front bzw. auf des Messers Schneide) befinden müssen.  
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10 ½ Thesen zum World Wide Web (W3), Teil eins
Hier finden sie die ersten fünf Thesen Reinhold Wagnleitners zum WWW.
->   10 ½ Thesen zum World Wide Web (W3), Teil eins
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These Sechs
Das Internet (das World Wide Web stellt davon ja nur einen wichtigen Sektor dar) repräsentiert nicht nur die bisher weitaus größte Maschine der Geschichte, sondern auch die größte militärische Maschine, welche die verzweigtesten und geheimsten militärischen Anlagen, die je von Menschen gebaut wurden, ermöglicht.
->   Alex Roland, "The Race for Machine Intelligence: DARPA, DoD, and the Strategic Computing Initiative"
->   Infowar - telepolis
->   Marko Kulnala, A Guide to Information Warfare
->   Institute for the Advanced Study of Information Warfare
->   Links zu Intelligence-Seiten
->   Christiane Schulzki-Haddouti, "Das globale Abhörpuzzle" telepolis 20. April 2001
These Sieben
Einen möglichen Weg, dem militärisch-industriellen Komplex zu begegnen, bot die Frage des Philosophen Leopold Kohr: klein sein oder nicht sein? Die Alternative, die sich im W3 anbietet, heißt möglicherweise: Online sein oder nicht sein.
->   Andreas Goppold, Kultur/Theorien Leopold Kohr
->   Deklaration von Salzburg - World Uranium Hearing 13. bis 18. September 1992
These Acht
Das Internet wächst und wächst und wächst und schrumpft zugleich. (Während in den letzten Jahren immer mehr Menschen online gingen, wuchsen dazu parallel die Anteile der großen Infotainment-Konzerne am gesamten Netzkuchen immer rapider.)
Florian Rötzer, "Das Web wird zum Massenmedium: Immer mehr Menschen zieht es zu einigen Webseiten" telepolis 25. August 1999
->   Das Web wird zum Massenmedium
These Neun
Ganz besonders trifft für das Internet eine nicht mehr ganz neue Erkenntnis der Kommunikationswissenschaft zu, nämlich, dass das, was nicht kommuniziert wird, auch nicht existiert. Wir wissen spätestens seit Marshall McLuhan, dass das Medium sowohl Message (Botschaft) als auch Massage bedeutet. Im Interesse von Vielfalt und Offenheit ist es daher ganz besonders für kleinere Kulturkreise und Individuen immens wichtig, die Inhalte des Internet mitzubestimmen (Stichworte: Kreativität und Widerstand).
These Zehn
Folgen wir der Theorie der langen Wirtschafts-Zyklen von Nikolai D.
Kondratieff, dann wird die sechste Kondratieff-Welle durch inhaltliche Beherrschung der Komplexität von Netzwerken des Wissens bestimmt werden. Also wird ein wichtiger Teil der zukünftigen Wertschöpfung durch die Interpretation ungenauen und paradoxen Wissens, das im beispiellosen Datenmüll der Informationsgesellschaft verschüttet liegt, produziert werden.

Und welches Wissen ist ungenauer und paradoxer als das um unsere Geschichte?
->   Kondratieff-Wellen
->   Virtuelle Organisationen im Kontext der Informations- und Wissensgesellschaft
Fazit
Dies bedeutet zweifellos eine ungeheure Herausforderung, aber auch eine erstrangige Chance für Geistes- und Sozialwissenschaftler im allgemeinen und für Historiker im besonderen.

Denn der zunehmenden totalen Durchsichtigkeit des Menschen entspricht gleichzeitig eine fast absolute In-Transparenz der Machstrukturen (nicht nur im staatlichen Bereich, sondern weit mehr noch auf dem Gebiet der Großkonzerne), die eine Forderung unverzichtbar machen: jede kritische Historikerin und jeder kritische Historiker muss daher im 21. Jahrhundert notgedrungen auch ein Hacker (aber kein Cracker!) sein.

David J. Gunkel, Hacking Cyberspace (Boulder, Co.: Westview Press, 2001
->   Freedom for Information
These Zehneinhalb
Thesen provozieren Antithesen. Das war der wichtigste Sinn der vorhergehenden Zeilen. Und schon die erste Tranche dieser Ansichten rief am letzten Osterwochenende so reichliche Reaktionen hervor, dass ich den vielen Kommentatorinnen und Kommentatoren zuvörderst nur meinen Dank für Ihre großen Mühen aussprechen kann.

Ich habe manches von ihnen gelernt.
(Un)geist der Gegenreformation?
Erwähnenswert ist diese ungemein läppische Tatsache allerdings ohnedies nur, weil auf manche meiner Thesen mit strenger Dogmatik repliziert wurde. Und dies ist kulturgeschichtlich selbstverständlich nur insofern aufschlussreich, als es jenen Kolleginnen und Kollegen (zu denen ich übrigens nicht gehöre!) Recht zu geben scheint, die meinen, dass in Österreich noch immer (bzw. schon wieder) der (Un-)Geist der Gegenreformation obwaltet.

Wäre dies richtig, dann könnte allerdings niemand darüber überrascht sein, dass alleine die Verwendung des Begriffs ¿These¿ noch immer zu Abwehrhaltungen führt, die dem Bereich des Irrationalen zumindest nahe stehen.
Keine religiöse Tiefsinnigkeit
Meine Thesen haben allerdings keine besondere religiöse Tiefsinnigkeit. Sie offerieren insgesamt nicht mehr und nicht weniger als ein ganz allgemeines Denk- und Diskussionsangebot über gesellschaftliche bzw. historische Implikationen der Entwicklungen im Bereich des Kommunikationswesens. Sie stehen damit in einer ganz schlichten und kurzweiligen Tradition: nämlich in einer Methode, die weit über 2.500 Jahre alt ist und Dialektik genannt wird.

Vielleicht braucht die Kunde darüber allhier noch weitere 2.500 Jahre.

Außergewöhnlich aufschlussreich erscheint mir für die Entwicklung einer kritischen Öffentlichkeit vor allem eine Gegebenheit: in den mir privat zahlreich zugehenden Emails, die alle namentlich gezeichnet sind, überwiegen zustimmende bis enthusiastische Reaktionen, während die an meinen Text im W3 angehängten (vorwiegend anonymen) Stellungnahmen im antithetischen Bereich liegen, wenn sie nicht überhaupt total ablehnend daherkommen.
International weit verbreitete Pathologien
Ob dieser Sachverhalt eher einen zusätzlichen Essay über die international weit verbreiteten Pathologien (selbstverständlich nicht im Sinne von "Krankheiten", sondern von "Merkwürdigkeiten") mancher Online-(Im)Postors provozieren müsste, oder doch eher einen über die nationale (österreichische) Diskussionskultur, wird sich erst mittelfristig zeigen.

Ich selbst bin (als pessimistischer Optimist) versucht, die miserable Laune mancher Postings vorwiegend dem scheußlichen Osterwetter anzulasten.
Hommage an einen Roman
Wie wir wissen, kann das Internet keine Debatte von Angesicht zu Angesicht ersetzen und schon gar nicht eine der fantastischen Ideen von Leopold Kohr: das akademische Wirtshaus.

Ich bin jederzeit bereit, mich einem offenen wissenschaftlichen Streit zu stellen. Das macht ja gerade das Salz der Wissenschaft aus. Schließlich würde ich sonst nicht hier publizieren.

Nicht willens bin ich allerdings, mich von anonymen Feiglingen anpöbeln zu lassen. Ich strafe sie mit tiefer innviertlerischer Mißachtung.

P.S. Den vielen Fragenden nach dem spielerischen Titel sei verraten, dass es sich dabei um eine Hommage an den wunderbaren Roman "A History of the World in 10 1/2 Chapters" von Julian Barnes handelt.
 
 
 
ORF ON Science :  Reinhold Wagnleitner :  Gesellschaft .  Technologie 
 

 
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