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Reinhold Wagnleitner
Institut für Geschichte, Universität Salzburg
 
ORF ON Science :  Reinhold Wagnleitner :  Gesellschaft 
 
Hintergründe der US-Reaktionen auf den Terror  
  Der bekannte deutsche Amerikanist Prof. Berndt Ostendorf vom Amerika-Institut der Universität München nimmt in seinem jüngsten Text zur öffentlichen Reaktion in den Vereinigten Staaten auf die verheerenden Terroranschläge in New York und Washington Stellung, wobei die Rufe nach Rache und Vergeltung immer mehr die Trauer und das Entsetzen übertönen.  
Ostendorfs sechs Erklärungsversuche weisen deutlich auf die historisch unterschiedlich gewachsenen Rechtsvorstellungen und religiösen Kulturen in den USA und Europa hin. Gleichzeitig warnt Ostendorf den globalen Hegemon USA, zu meinen, dass die Situation ohne Lösung der tatsächlichen strukturellen globalen Probleme zu bereinigen sei.
Die Versuchungen der Rache: Die USA und das lex talionis
Von Berndt Ostendorf, erscheint in der "TAZ", Montag, 17. September

Der Ruf nach sofortiger Vergeltung für die schrecklichen Untaten islamisch-religiöser Extremisten, der zurzeit in amerikanischen Umfragen, in der politischen Klasse und in den Medien laut wird, wirft die Frage auf, warum dort der Rachegedanke, das lex talionis, so populär ist.

Seine Popularität lässt sich am einfachsten plausibel machen, wenn man die der Todesstrafe miterklärt. Denn unter den westlichen Demokratien halten allein die USA mehrheitlich an der Todesstrafe und am Glauben an ihre Wirksamkeit fest. Es lassen sich sechs Gründe bündeln, die die historisch gewachsenen Eigenarten der amerikanischen politischen Kultur deutlicher machen.
USA: "Nation mit der Seele einer Kirche"
Erstens: Die USA sind, wie es der englische Kriminalautor Gilbert Keith Chesterton formulierte, eine "Nation mit der Seele einer Kirche". Die theokratische Gründungsideologie des puritanischen Protestantismus stand dem Alten Testament näher. Etwas vereinfachend kann man sagen, dass die USA stärker vom Alten Testament und seinem lex talionis geprägt wurden, die europäischen vom Neuen Testament - eine unterschiedliche Grundhaltung, die sich bis in die Gestaltung der Außenpolitik nachweisen lässt.

Dies mag auch eine gewisse Symbiose der amerikanischen Christen, vor allem der fundamentalistischen, mit Israel unter dem Motto der "Judaeo-Christian tradition" erklären, ein brüderlicher, durch den Holocaust verstärkter Schulterschluss, der den Islam außen vor lässt. Diese Wahlverwandtschaft verführt zur Konstruktion eines tiefen Grabens zwischen den Welten des Okzident und Orient bzw. eines Kampfes der Kulturen.
Personalisierung von Übel und Gefahren
Zweitens: Schuld und Schuldfähigkeit wird in den USA in der Regel beim Individuum gesucht, nicht so sehr in den gesellschaftlichen Umständen und noch weniger in einer wirtschaftlichen Randständigkeit der Täter. Da alle Freiheitsrechte im Individuum verankert sind, wird dieses auch stärker in die Verantwortung genommen, nach Maßgabe des alten puritanischen Spruchs: "Wem viel gegeben wurde, von dem wird viel verlangt."

Dies mag erklären, warum man selbst die Gefahr eines global verbreiteten, inzwischen kollektiven Extremismus am liebsten auf eine Person, in diesem Fall Osama bin Laden, reduziert hätte und damit das Übel personifizierbar und figurierbar macht (wie vordem anhand von Saddam Hussein oder Muammar Ghaddafi).

Dabei sollte jedem klar sein, dass auch die Eliminierung von Bin Laden das Problem des Extremismus kaum lösen wird. Auch das Wort vom Schurkenstaat transportiert eine latente Personifizierung.
Clash of Civilizations: Gut gegen Böse
Drittens: Diese populäre, basisdemokratische Theologie des Individuums geht von einer manichäischen Einteilung zwischen Recht und Unrecht oder Gut und Böse aus. So genannte "killer-oppositions" sind in den Diskursen der amerikanischen Politik sehr populär: gute christliche Demokratie vs. böser islamischer Schurkenstaat, Jihad vs. McWorld, unschuldig oder schuldig.

Es gibt in dieser Vorstellung zwischen Gut und Böse kaum eine moralisch-mittlere Position. Auf Stoßstangen der Patrioten steht daher: America love it or leave it. Außenpolitisch kam diese zwanghafte Vorstellung in dem viel zitierten Aufsatz von Samuel Huntington zum Ausdruck, dessen Denkfigur eines "clash of civilizations" durch die Geschehnisse in New York den Charakter einer self-fulfilling prophecy erhalten hat, an deren Bestätigung auch die islamischen Extremisten nur zu gerne mitarbeiten.

Zudem ist diese Denkfigur für den neuen Soundbyte-Journalismus ideal. Denn solches "Übel" lässt sich medial am besten mit tanzenden Palästinenserkindern, die vom Leid der Amerikaner ihre orientalische Energie schöpfen, dramatisch inszenieren. Der Sender Pro 7 hat diese Bilder sicher an die 20 Mal gesendet und sich jede vertiefte Analyse dieser Situation durch den Orientalisten Prof. El-Aouni (FU Berlin) verbeten.
Basisdemokratie verlangt nach Rache
Viertens: Es kommt in solchen Krisenmomenten die Tradition der populistischen Graswurzeldemokratie zum Tragen. Man könnte polemisch sagen: Amerika ist populärdemokratischer als Europa - und zwar in dem Sinne, dass der populistische Volkswille energischer in politische Praxis und in die Wahl politischer Ämter umgesetzt wird als bei uns. Wenn also 85 Prozent der Amerikaner nach Rache rufen, kann Bush diesen Wählerauftrag nicht ignorieren.

Was die Popularität der Todesstrafe betrifft, so ist es wichtig, dass die Entscheidung darüber in der Verfügung der Einzelstaaten liegt, also eine Funktion der Regionalpolitik bleibt. Es gibt in bestimmten Regionen Amerikas eine Mehrheit für die Todesstrafe und damit für Rache, und diese Mehrheit scheint in den letzten 20 Jahren, vor allem seit dem 11. September, gewachsen zu sein. Also konnten es sich Kandidaten für den Gouverneursposten selbst in einem liberalen Staate wie New York nicht mehr leisten, ein Veto gegen die Todesstrafe einzulegen. Cuomo hatte das mehrfach getan und dann prompt die Wiederwahl gegen Pataki verloren.

Allerdings: Auch in Deutschland könnte man bei einem Referendum zur Frage, ob man Kinderschänder aufhängen sollte, mit einer Mehrheit rechnen, die aber in unserem bestehenden politischen und juristischen System nicht umsetzbar wäre. Deutschland ist maßgeblich vom Trauma des staatlichen Verbrechens gegen die Menschenwürde durch den Nationalsozialismus geprägt und hat seine politischen Institutionen daher stärker gegen die Todesstrafe und auch gegen Rachegedanken immunisiert. Amerikanische Patrioten haben dieses Trauma nicht, sondern glauben zur Verteidigung des amerikanischen "Paradieses" selbst extreme Maßnahmen ergreifen zu müssen.
Fundamentalistischer Rechtsruck seit Reagan
Fünftens: Seit Reagan hat ein religiös und fundamentalistisch motivierter Rechtsruck stattgefunden. Man kann von einer "Versüdstaatlichung" des Rechtsempfindens und daher als Konsequenz von einer Fundamentalisierung der Politik, auch der Justiz, sprechen. Dahinter steckt ein Sieg der neuen christlichen Rechten beim Marsch durch die Institutionen, der in den siebziger Jahren unter Nixon begann und mit großem Erfolg vor allem in den Südstaaten vervollständigt werden konnte.

Die Wahl von Bush junior bestätigt einen Trend, der auch nicht von Clinton durchbrochen wurde. Auch Clinton konnte es sich als Gouverneur eines Südstaates nicht leisten, den Volkswillen zu ignorieren. Er hat das Todesurteil eines geistig Behinderten unterzeichnet. Dieses fundamentalisierte, manichäische Rechtsdenken hat auch den politischen Handlungsrahmen eingeengt, den alttestamentarischen Rachegedanken gestärkt und diesem ein zivilreligiöses Unterfutter gegeben.
Krise des Rechtssystems
Sechstens: Das amerikanische Rechtssystem und die globale Politik stecken in einer Krise. Das Rechtssystem ist in einer technisch-prozeduralen "Win or lose"-Ideologie erstarrt, wobei die Verurteilung mehr von der Beherrschung dieses Prozeduralismus und einem sozialdarwinistischen Heimvorteil in der Beschaffung juristischen Beistands abhängig ist als von der Schuldfrage (cf. O.J. Simpson).

Richard A. Posner schreibt in "How American justice has failed" ("Times Literary Supplement", 26.2.1999): Es lohnt sich also für Schuldige reich zu sein, und er meint, dass eine schuldige, aber reiche Person vor einem amerikanischen Gericht eher mit einem Freispruch und ein schuldiger Armer vor einem europäischen Gericht eher mit Milde rechnen kann. Diese "Win or lose"-Ideologie, die für das Rechtsempfinden prägend ist, stellt leider auch den Resonanzboden der politischen Entscheidungsprozesse dar.

Zur Zeit des kalten Krieges konnte sich die amerikanische Politik im stabilen System der Killeroppositionen blendend entfalten. Wir erinnern uns an Reagans Wort vom evil empire. In einer unipolaren, globalisierenden, instabilen Welt wird es schwerer fallen, einen oder mehrere Feinde nach altem Schema klar im Visier auszumachen, es sei denn man konstruiert sich einen.
Nachhaltige Wirkungen
Zusammen zeigen diese sechs Faktoren ihre anhaltende juristische und politische Wirkung, obwohl der achte Zusatz zur Verfassung seit 1791 eine "grausame und ungewöhnliche Bestrafung" verbietet. Hierzu gab es 1972 eine Entscheidung des obersten Verfassungsgerichts, das zwar die Todesstrafe nicht grundsätzlich in Frage stellte, aber eine gewisse Willkür in der Handhabung der Todesstrafe bemängelte, die dann von den Einzelstaaten "korrigiert" wurde.

Daher gibt es seit 1977 wieder die Vollstreckung der Todesstrafe (gerade auch im Heimatstaat Texas des derzeitigen Präsidenten) - und das, obwohl feststeht, dass sie so gut wie keine abschreckende Funktion hat. Mit einer Inhaftierungsquote von 650 Häftlingen auf 100.000 Einwohner (im Gegensatz zur deutschen Quote von 85/100.000) sind die amerikanischen Gefängnisse so voll, dass viele Staaten sich gezwungen sehen, ein "outsourcing" des Strafvollzugs, also die Rache des Staates, in den privaten Sektor vorzunehmen.
Märtyrer - so oder so
Islamische Extremisten, so sie dingfest gemacht werden, was zu hoffen ist, können wie Timothy McVeigh mit der vollen Härte des amerikanischen Rechtssystems rechnen. Auch das passt ins manichäische Bild vom Kampf der Kulturen: Sie wollten so oder so Märtyrer werden.

Die Politik des globalen Hegemon USA sollte sich jedoch andere Lösungen suchen und versuchen, den strukturellen Ursachen des Extremismus auf den Grund zu gehen, um diese zusammen mit den NATO-Verbündeten zu beseitigen.
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Prof. Berndt Ostendorf
Nordamerikanische Kulturgeschichte
Amerika Institut
Schellingstrasse 3
D-80799 München
->   Amerika Institut
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->   taz.die tageszeitung
 
 
 
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