Host-Info
Reinhold Wagnleitner
Institut für Geschichte, Universität Salzburg
 
ORF ON Science :  Reinhold Wagnleitner :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Geschichte@Internet  
  Das Internet spielt bei der Interpretation der Welt eine wichtige Rolle. Warum Historiker und Historikerinnen deshalb Hacker werden sollten ...  
Epoche der Desinformation?
Der polnische Satiriker Stanislaw Jerzy Lec hatte wohl nicht ganz unrecht, als er meinte, dass derjenige, der über den weitesten Horizont verfüge, meist auch die schlechteste Aussicht habe. Das Informationszeitalter wird daher sicher weit eher eine Epoche der Desinformation hervorbringen als eine Wissensgesellschaft - wenn man von den "Eliten" absieht.
Das Internet und seine Beherrschung - in jedem Sinne des Wortes - wird daher bei der Interpretation der Welt eine hervorragende Rolle spielen. Denn das World Wide Web vertieft ja die immensen Klüfte zwischen den wenigen Reichen und den vielen Armen dieser Welt weit mehr als es die Besitzenden jemals unter einander verbinden könnte.
Denn die Zukunft ist ja schon da, sie ist nur nicht gerecht verteilt (William Gibson). Und außerdem wissen wir zumindest seit Albert Einstein, dass die Unterteilung der Realität in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer nur eine Illusion bedeutete, wie hartnäckig sie auch immer sein mochte.
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Weniger Distanz, mehr Kontrolle
Dem virtuellen Verschwinden von geographischen und zeitlichen Grenzen und Distanzen steht eine bisher unvorstellbare und alles andere als virtuelle Zunahme an Kontroll-, Abhör- und Spionagemöglichkeiten im zivilen, militärischen und - im Konflikt zwischen den USA und Europa besonders wichtig - im ökonomischen Bereich gegenüber. Denn das Internet ist ja nicht nur die größte zivile Maschine, die je von Menschen angefertigt wurde, sondern auch der größte militärische Apparat, der je zur Verfügung stand. Schon alleine deshalb ist die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem neuen Leitmedium unbedingt notwendig.
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Online sein oder gar nicht
Klein sein oder nicht sein, das war die entscheidende Frage Leopold Kohrs. Die Alternative, die sich im W3 virtuell anbietet, lautet offensichtlich: Design sein oder nicht sein. Aber schon der große bayerische Geschichtsphilosoph Karl Valentin wusste ja, dass früher eben auch die Zukunft noch viel besser war.
Das Projekt Geschichte@Internet, gegründet von optimistischen Pessimisten, meint daher: online sein oder nicht mehr sein, das ist hier die Frage. Denn zumindest für das Internet trifft zu, dass das, was nicht kommuniziert wird, auch nicht existiert. Aber das Medium ist eben nicht nur Message (Botschaft), sondern auch Massage.
Schöne neue Internet-Welt
Daher liegt es eindeutig an uns, die Inhalte des Internet mitzubestimmen. Entweder wir schreiben unserer Geschichte selbst(-kritisch), oder sie wird, so ihr nicht Hollywood den Garaus macht, ganz einfach sang- und klanglos verschwinden.
Schneller als uns allen lieb ist, könnten wir einander ansonsten in Aldous Huxleys Schöner neuer Welt wieder finden und zu jenen gehören, von denen ungestraft behauptet werden kann: Nicht jeder, der damals aus dem Rahmen fiel, war vorher auch im Bilde.
Geschichte im Datenmüll?
Ein großer Teil der Wertschöpfung wird in Hinkunft durch die Interpretation ungenauen und paradoxen Wissens produziert, das im ungeheuren Datenmüll der Informationsgesellschaft verschüttet liegt. Und welches Wissen ist ungenauer und paradoxer als das um unsere Geschichte?
Auch hier hat Lec mit der Feststellung: - wenn Gerüchte alt werden, werden sie Mythos - den Nagel auf den Kopf getroffen. Mittlerweile trifft dies allerdings im vermehrten Ausmaß auch auf jüngste Gerüchte [sic] zu: unter anderem auf jenes, dass es sich beim Internet vorwiegend um ein aufklärerisches und völkerverbindendes Medium handle.
Historiker als Hacker
All dies bedeutet zweifellos eine außerordentliche Herausforderung, aber auch eine immense Chance. Denn der zunehmenden totalen Durchsichtigkeit des Menschen entspricht gleichzeitig eine fast absolute Undurchsichtigkeit der Machstrukturen, die eine Forderung unverzichtbar machen: Sollten wir überhaupt eine minimale Chance besitzen, im kommenden Jahrhundert in demokratisch verfassten Gesellschaften zu existieren, so müssen alle ernstzunehmenden Historikerinnen und Historiker - ob sie es wollen oder nicht - auch Hacker sein.
Denn ein nachhaltiger Friede kann nur durch Kenntnis der - eigenen und fremden - Geschichte(n), durch Einsicht und Verstehen, Kompromiss und Aufeinanderzugehen entstehen.
Das Projekt Geschichte@Internet

Das Projekt Geschichte@Internet stellt sich der Herausforderung des neuen Leitmediums und bietet in Lehrveranstaltungen, Kursen, Schulungen, Vorträgen, Diskussionen und Publikationen eine Plattform zur kritischen Auseinandersetzung für alle Interessierten.
->   Geschichte@Internet
 
 
 
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