Host-Info
Reinhold Wagnleitner
Institut für Geschichte, Universität Salzburg
 
ORF ON Science :  Reinhold Wagnleitner :  Gesellschaft 
 
Afghanistan: Die Lektionen aus dem letzten Krieg  
  Pünktlich zum Ausbruch des neuen Krieges der USA und Großbritanniens (Stand 11. Oktober 2001) gegen Afghanistan zur Vergeltung für die Terroranschläge in den USA veröffentlicht das National Security Archive den zweiten Band seiner Quelleneditionen zur Hintergrundgeschichte der Anschläge vom 11. September 2001.  
Der Krieg der Sowjetunion in Afghanistan 1979-1989
Hatte sich der erste Band noch mit allgemeinen Fragen der US-Politik hinsichtlich der weltweiten Entwicklungen des Terrors beschäftigt, bringt diese Ausgabe eine Reihe von ins Englische übersetzten sowjetischen Dokumenten über den bisher letzten Afghanistankrieg.
->   Erstes Quellenbuch zum 11. September 2001
Den Lesern bietet sich hier eine hochinteressante Auswahl an Quellen: von Politbüroprotokollen der KPdSU aus dem März 1979 zu Kriegsbeginn, über Mitschriften von Telefonaten von Premierminister Alexei Kossygin mit dem afghanischen Premierminister Nur Mohammed Taraki, zahlreiche Quellen über die ständig zunehmenden Probleme während der 1980er Jahre bis hin zum letzten Politbüroprotokoll vom 23. Jänner 1989, das neben dem unmittelbar bevorstehenden Truppenabzug auch die schwierige zukünftige Rolle der Sowjetunion thematisiert.
Schlecht informierte Politiker
Ohne Zweifel waren diese Vorstellungen, verstärkt durch ideologische Scheuklappen, noch viel zu optimistisch und ähnelten darin den völlig unrealistischen und siegessicheren Prognosen bei Kriegsbeginn.

Aber Afghanistan passte nicht nur nicht in die mentalen Karten der Führung der Sowjetunion. Schon die britischen Kolonialarmeen hatten sich zwischen 1839 und 1921 in drei großen Kriegen und zahllosen kleineren Scharmützeln in Afghanistan nie wirklich durchsetzen können.
Der Faktor Religion
Ganz besonders täuschte sich die Sowjetführung, die kaum über Islamexperten verfügte, über die bedeutende Rolle der Religion in Afghanistan.

Die Überraschung, ja sichtliche Befremdung, nicht als Befreier von den Fesseln der Tradition, sondern als fremde Eroberer und Ungläubige empfangen zu werden, ließ die von der Überlegenheit der marxistisch-leninistischen Ideologie noch immer überzeugten politischen und militärischen Führer in Moskau viel zu spät aufwachen.
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Kalter Krieg und Neue Weltordnung
Allerdings standen die sowjetischen Truppen und ihre afghanischen Verbündeten auch einer seltsamen Koalition gegenüber, die sich, wenn überhaupt, nur aus der (Un-)Logik des Kalten Krieges erklären ließ.

In dem äußerst brutal geführten, blutigen zehnjährigen Krieg sah sich die Rote Armee nämlich mit einer islamischen Guerilla konfrontiert, deren wichtigste Finanziers und Waffenlieferanten die Geheimdienste der USA waren.
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Die Geister, die ich rief ...
Hauptprofiteure dieser amerikanischen Unterstützung (von Jimmy Carter über Ronald Reagan bis zu George Bush, sen.) gegen den Erzfeind Sowjetunion waren selbstverständlich die Taliban und die sich vorwiegend aus arabischen Ländern rekrutierenden Freischärler um Osama bin Laden.

Verlierer waren nicht nur die Sowjetunion, sondern ganz besonders die Völker Afghanistans.
... arbeiteten auf einer anderen Geschäftsgrundlage
Denn die Taliban konnten sich, allen Warnungen wegen massivster Menschenrechtsverletzungen zum Trotz, auch während der Clinton-Administration bis zu den Anschlägen auf die Botschaften der USA in Tansania und Kenia des Wohlwollens einflussreicher Kreise in den USA erfreuen.
Politik und Geschäft
Hauptgrund: der Kampf um die Kontrolle der immensen Öl- und Gasreserven Zentralasiens (vermutete Vorkommen in Afghanistan südlich von Kabul), sowie die noch zu bauenden Pipelines durch Afghanistan - der Iran kommt selbstverständlich für die USA nicht in Frage - nach Pakistan bzw. Indien.

Wichtigster Cheerleader der Taliban in Washington war von 1996 bis August 1998 der US-Erdölkonzern Unocal, eine Tatsache, die der Geschäftsführung nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 doch einiges Kopfzerbrechen bereitete.
->   Unocol Statement 14. September 2001
Die USA und Afghanistan 1973 bis 1990
Die auf der Website des National Security Archive veröffentlichte Studie von Steven Galster über die verwirrenden Mäander der US-Politik gegenüber Afghanistan zwischen 1973 und 1990 bietet einen informativen Überblick.
->   Afghanistan: The Making of U.S. Policy, 1973-1990
S. Frederick Starr: 20 Thesen zu Afghanistan
Auf die tatsächlichen Versäumnisse der letzten Jahre wies allerdings S. Frederick Starr von der Nitze School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University in Washington bereits am 18. Mai 2001 ganz besonders eindringlich hin.

Denn damals präsentierte Starr, einer der profundesten Kenner des zentralasiatischen Raumes in den USA, bei der Asienkonferenz der Brookings Institution seine ebenso tiefgehende wie prägnante Analyse der wichtigsten Probleme und Lösungsvorschläge um die Zukunft Afghanistans. Und seine Untersuchung zeigt gerade jetzt, dass wieder einmal eine Chance kolossal verspielte wurde.
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These 1:
Die humanitäre Krise hat solche apokalyptische Proportionen erreicht, dass unmittelbare Katastrophenhilfe dringendst benötigt wird, sogar noch bevor eine politische Lösung erreicht werden kann.
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Aber die Vorbereitung auf einen gerechten Frieden ist eben weitaus komplizierter (und weniger spektakulär) als Vorkehrungen für den Krieg.
->   S. Frederick Starr, Twenty Theses on Afghanistan
->   S. Frederick Starr, Statement on U.S. Interests in the Central Asian Republics, House Committee on International Relations, 12. Februar 1998
Die Hybris der Regierenden
1984 erschien Barbara Tuchmans Bestseller "Die Torheit der Regierenden" (Originaltitel "The March of Folly"), in dem die Hybris regierender Eliten anhand von Fallbeispielen vom Trojanischen Krieg bis zum Vietnamkrieg abgehandelt wurde.

Alleine die in den letzten zwanzig Jahren vergebenen Chancen böten genügend Stoff für einen zweiten Band. (Der Gerechtigkeit halber sei angemerkt, dass die Fehlinterpretationen durch Historiker ganze Bibliotheken füllen.)

Und es steht zu befürchten, dass auch die Lektionen aus dem letzten Krieg gegen Afghanistan nicht gelernt wurden. Barbara Tuchmans Warnung über die gigantischen Fehler zu Beginn des Ersten Weltkriegs in "The Guns of August" können deshalb kaum beruhigen, auch wenn sie sich damals auf den deutschen Generalstab bezogen: "Tote Schlachten, wie tote Generäle, halten die militärischen Gehirne in ihrem tödlichen Griff, und so bereiteten sich die Deutschen, nicht anders als andere Völker, wiederum auf den letzten Krieg vor."
 
 
 
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