Host-Info
Reinhold Wagnleitner
Institut für Geschichte, Universität Salzburg
 
ORF ON Science :  Reinhold Wagnleitner :  Gesellschaft 
 
(K)Eine Alternative zum Krieg?
Das Worldwatch Institute zur nachhaltigen Vermeidung des Terrorismus
 
  Die USA bekämpfen im Augenblick den "internationalen Terrorismus", indem sie in Afghanistan Krieg gegen das Taliban-Regime führen. Doch Experten des Worldwatch Institute halten diesen Weg für falsch. Sie propagieren eine Art "Marshall-Plan" für Afghanistan: nachhaltige finanzielle Unterstützung, die das Land aus seiner von Krieg, Armut und Hunger bestimmten Situation befreien soll und dem Terrorismus so seinen Nährboden entziehen könnte.  
Was halten Sie vom folgenden Rat eines hochrangigen US-Generals und Staatsmannes zur Strategie der USA gegenüber einer von Krieg, Armut, Krankheit und Hunger zerstörten Weltgegend?

"Es ist von größter Bedeutung, dass unsere Nation ein allgemeines Verständnis über die tatsächlichen Schwierigkeiten erzielt, anstatt dass sie aus Leidenschaft oder Vorurteilen oder einem Gefühl des Moments reagiert¿ Denn es ist aus dieser Distanz im Grunde genommen unmöglich, nur durch Lektüre, durch Zuhören oder auch durch Ansehen von Bildern oder Filmen die tatsächliche Bedeutung der Situation zu begreifen. Und trotzdem hängt die ganze Welt der Zukunft von einem korrekten Urteil ab."
Ein neuer "Marshall-Plan" für Afghanistan?
Mit dieser Ankündigung des Marshall Plans zum Wiederaufbau des zerstörten Europa durch US-Außenminister General George C. Marshall am 5. Juni 1947 leiten zwei führende Mitarbeiter des Worldwatch Institute in Washington, Dick Bell und Michael Renner, die Präsentation einer Alternative zum gegenwärtigen Krieg gegen das ohnehin bereits seit Jahren fast vollkommen zerstörte Afghanistan ein.
->   A New Marshall Plan? Advancing Human Security and Controlling Terrorism
Ursache und Wirkung
Selbstverständlich verlangen auch die Mitarbeiter des Worldwatch Institute die Bestrafung der Terroristen, meinen allerdings, dass der beschrittene Kriegspfad exakt das Gegenteil des erklärten Kriegsziels bewirken werde. Denn die Spirale des Hasses erhält gerade durch den Bombenkrieg einen weiteren immensen Schub.

Als Alternative böte sich tatsächlich eine viel mutigere und weitsichtigere Strategie an, die übrigens deutlich an Bruno Kreiskys Initiativen zum Marshall Plan für die "Dritte Welt" erinnern.

Anders als beim Marshall Plan müsste allerdings die finanzielle Unterstützung hier direkt in kleine, nachhaltige Selbsthilfe-Projekte vor Ort fließen, um langfristig wirksam werden zu können.
->   S. Frederick Starr, "Poverty and Violence in the Mountains" The National Interest
Die Gegenwart der Geschichte
Die USA und Europa müssten nur endlich zugeben, dass die Probleme viel tiefer liegen als die gewaltigsten Einschlagstrichter von Bombenkratern. Alleine durch das Aufspüren der Hintermänner für die Anschläge in den USA werden sie nicht behoben.

Die "Erste Welt" kann nicht umhin, endlich zuzugeben, dass viele Welt-Probleme auf Ursachen zurückgehen, die zutiefst mit ihrer eigenen Geschichte verbunden sind.
Zentrale Überlebensfrage für die ganze Menschheit
Denn wie immer deshalb auch der gegenwärtige Krieg ausgehen mag, angegangen muss die Lösung dieser zentralen Überlebensfragen für die ganze Menschheit auf jeden Fall so rasch als möglich werden.

Und: Sabour Zamani, der Leiter des Berliner Zentrums für afghanische Kultur, betonte diese Woche zurecht, dass die unschuldigen Opfer in Afghanistan nichts von den unschuldigen Opfern in New York und Washington unterscheidet.
->   "Dieser Krieg ist verlogen", Sabour Zamani, Spiegel-Interview, 8. November 2001
...
Die Bestandsaufnahme
Kein Groschen zusätzlich müsse deshalb für Geheimdienste ausgegeben werden. Uns allen sind die Elendsbedingungen in weiten Teilen der Welt auch jetzt bekannt.

- mindestens 1,2 Milliarden Menschen kämpfen täglich mit weniger als einem Dollar ums Überleben
- mindestens 1,2 Milliarden Menschen haben kein sauberes Trinkwasser
- mehr als 150 Millionen Kinder sind unterernährt
- mehr als zehn Millionen Kinder unter fünf Jahren werden alleine heuer sterben
- mindestens 150 Millionen Menschen sind arbeitslos und
- ca. 900 Millionen Menschen verdienen trotz härtester Arbeit zu wenig für ein menschenwürdiges Auskommen.
...
Leichte Beute für Extremisten
Selbstredend führen Armut und Entbehrung nicht automatisch zu Hass und Terror. Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass vor allem junge, jeder Hoffnung beraubte Menschen leichte Beute für Extremismen bieten. Und mehr als ein Drittel der Bevölkerung der "Dritten Welt" ist unter 15 Jahren.
Kein unbekanntes Argument
Zumindest jene Kommentatoren, welche ständig die völlig trostlose wirtschaftliche Situation der Zwischenkriegszeit als Hauptargument für die Unterstützung der terroristischen Politik der Nationalsozialisten im Mund führen, sollten diesem Argument nicht die kalte Schulter zeigen.
Kostenvergleich: Kriegskosten und Hilfsprogramme
Der absehbaren Kritik, die Beseitigung dieser Missstände wäre völlig unfinanzierbar, entgegnen Bell und Renner: Die USA haben soeben, bei einem Verteidigungsbudget von 342,7 Milliarden Dollar weitere 40 Milliarden zur Bekämpfung des Terrorismus bereit gestellt.

Die Verteidigungsbudgets von Großbritannien, Deutschland und anderer Bündnispartner der USA, die gerade weiter in den Krieg hinein gezogen werden, sind in dieser Kalkulation gar nicht berücksichtigt.

Welche Programme zur Linderung menschlichen Elends könnten sich alleine die USA als Alternative zu angenommenen Kriegskosten von 100 Milliarden Dollar im nächsten Jahr leisten?
...
UN-Bericht: Kosten für Hilfsprogramme
Nach einem Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1998 lägen die jährlichen Kosten zur Bereitstellung grundsätzlicher Sozialprogramme in allen Entwicklungsländern zusammen bei

- neun Milliarden Dollar für sauberes Wasser und sanitäre Anlagen
- zwölf Milliarden für Gesundheitsvorsorge im Bereich der Reproduktion und Empfängnisverhütung
- 13 Milliarden Dollar für die Basisversorgung im Bereich Gesundheit und Ernährung für alle Menschen und
- sechs Milliarden für die Grundversorgung im Bereich der Bildung.

Handelt es sich bei diesen Summen auch um immense Beträge, so unterschreiten sie die Ausgaben, die von der "entwickelten Welt", allerdings vorwiegend zum eigenen Profit, bereits jetzt für die "Dritte Welt" getätigt werden. Und im Vergleich zu den jährlichen weltweiten Rüstungsausgaben von 780 Milliarden Dollar sind sie ohnehin lächerlich genug.
->   United Nations Development Programme
...
Alternative Friedensallianz
Während das zunehmende Muskelspiel der reichsten Nationen, insbesondere das Anwachsen der Kriegskoalition gegenüber einem der ärmsten Länder der Welt, eine rasche Lösung des Konfliktes immer unwahrscheinlicher macht, rückt eine Alternative in immer weitere Ferne: eine Friedensallianz, deren Kraft dem Aufbau einer Koalition zur Beseitigung von Hunger, Krankheit und Analphabetismus und ganz allgemein zum Kampf gegen unmenschliche Lebensbedingungen dient.
Intelligente Waffen, dumme Politik
Unfraglich wissen wir ja nicht erst seit dem 11. September 2001, dass uns auch die intelligentesten Waffen nicht vor einer dummen Politik schützen können. Aber ändern wir unsere Prioritäten nicht umgehend, dann werden die Bedrohungen in rasendem Tempo zunehmen.

Denn die Initiative des Worldwatch Institute erinnert ja nur daran, dass Waffen im Zeitalter der extremen Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Armut keinen dauerhaften Frieden schaffen können.
->   The Worldwatch Institute
->   Worldwatch Updates
->   Weitere Artikel von Reinhold Wagnleitner in science.orf.at
 
 
 
ORF ON Science :  Reinhold Wagnleitner :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick