Host-Info
Reinhold Wagnleitner
Institut für Geschichte, Universität Salzburg
 
ORF ON Science :  Reinhold Wagnleitner :  Gesellschaft 
 
Geschichte der Gefühle  
  Nicht nur die Politik der Gefühle feiert gegenwärtig fröhliche Urständ. Auch die Geschichte der Emotionen erfreut sich wieder eines ansteigenden Interesses. Dabei kann sie ihrerseits selbst schon wieder auf eine lange Tradition zurückblicken.  
Dass der Ruf nach einer Untersuchung der Gefühlswelten der Menschen zum Verständnis der Mentalitäten durch den Mitbegründer der Annales, Lucien Febvre, gerade in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erschallte, war augenfällig eine Reaktion auf den scheinbar unaufhaltsamen Siegszug des Faschismus in Europa.
Haben Gefühle Geschichte?
Selbstverständlich sind hier nicht nur die Geschichtswissenschaften tangiert, sondern auch die Disziplinen der Kunstgeschichte, Anthropologie, Ethnologie, Soziologie, Psychologie, Psychoanalyse und Sprachwissenschaften, um nur die wichtigsten zu nennen. Sicher können menschliche Gefühle als anthropologische Grundkonstante betrachtet werden.
Hat Geschichte Gefühle?
Wir wissen aber auch, dass Gefühle - und deren Äußerungen - beträchtlichen historischen Veränderungen unterliegen; dass sie kulturell jeweils anders ausgedrückt, inszeniert oder unterdrückt werden. So lassen sich nicht nur gravierende Unterschiede bei geschlechtsspezifischen Vorstellungen von erlaubten und unerlaubten Gefühlen in verschiedenen historischen Situationen demonstrieren, sondern auch bei verschiedenen Klassen und ethnischen Gruppen.
Eine Geschichte der Angst
Daher wird eine Geschichte der Angst auf erstaunlich lange dauernde Perioden stoßen, in denen Seuchen und Epidemien gleichartige Reaktionen hervorrufen: von der Pest bis zu BSE. Aber ein kleiner Unterschied liegt dann doch wohl darin, ob man sich vor einigen Tausend Jahren vor den Geistern der Urahnen fürchtete oder heute davor, von Außerirdischen mittels UFOs gekidnappt zu werden.

Die Angst vor der totalen nuklearen Vernichtung mag mit jener vor der Steinkeule des Höhlennachbars ebenso verwandt sein, wie der atavistische Wunsch nach Aufbau eines scheinbar unverwundbar machenden Raketenabwehrgürtels im All gewiss an Achilles und das Nibelungenlied erinnert.

Schließlich bietet eine Geschichte der (Angst-)Gefühle einen unüberbietbaren Einblick in die Herrschaftstechniken der letzten Jahrtausende. Und dies kann beileibe auch gerade dann nicht schaden, wenn die Herrschaftstechniken längst so perfektioniert sind, dass die Beherrschten von ihrer Freiheit vollkommen überzeugt sind.
...
Literatur:
Paul Newman, A History of Terror: Fear & Dread Through the Ages (Sutton Publishing, 2000)
Claudia Benthien, Anne Fleig und Ingrid Kasten (Hg.), Emotionalität. Zur Geschichte derGefühle (Köln: Böhlau, 2000)
Heinz-Gunter Vester, Emotion, Gesellschaft und Kultur: Grundzüge einer soziologischen Theorie der Emotionen (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991)
Peter Stearns und Jan Lewis (Hg.), An Emotional History of the United States (New York: New York University Press, 1998)
...
Die Gefühle einer Supermacht
Letztes Wochenende trafen sich daher die Historikerinnen der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien zur 24. Jahrestagung in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing am Starnbergersee, um eine genauere Ortung auf der weiten emotionalen Landkarte der USA herbeizuführen.
->   Programm: Emotions and American History
Die breite Themenpalette entsprach dem Diktum, dass die Seele ein weites Land ist, gerade auch dort, wo die Möglichkeiten unbegrenzt scheinen. Die Beiträge reichten von der Propagierung von Hassgefühlen gegenüber Abweichlern und Minoritäten, der Konstruktion von Nähe und Distanz gegenüber Europa, der Emotionalität bei Diskursen über Geschlechterfragen, über die Konstruktion von kollektiven Gefühlen an Hand des Vietnam Memorials, in der amerikanischen Malerei, populären Musik und bei Sportveranstaltungen, bis hin zur bis heute ungelösten Frage, ob der Sprache des Hasses die freie Rede zusteht.
...
Coolness als Panzer
Der Hauptredner Peter N. Stearns argumentierte eindrucksvoll, dass die eine durchgehende emotionale maskuline Hauptcharakteristik vieler Amerikaner im 20. Jahrhundert, nämlich das Anstreben von "Coolness", tatsächlich das vollständige Gegenteil von Emanzipation darstelle: weit davon entfernt, Gefühle zu befreien, würden Emotionen wieder nur einmal hinter dem Anstrich des Coolen verklebt und unter der Reklame-Patina des vermeintlich Neuen versteckt worden. Dass gerade viele Menschen in den USA, der heißesten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, um mit Claude Lévi-Strauss zu sprechen, den intensiven Wunsch nach Coolness verspürten, kann zwar kaum überraschen.
->   Peter N. Stearns, American Cool: Constructing a Twentieth-Century Emotional Style (New York University Press, 2000)
...
->   Claude Lévi-Strauss
Allerdings wussten die Beatles schon 1968 um die Kosten einer solchen Täuschung:
...
Bild: APA
And any time you feel the pain, Hey Jude refrain,
Don't carry the world upon your shoulders
For well you know that it's a fool who plays it cool
By making his world a little colder
"Hey Jude" John Lennon and Paul McCartney © 1968 Northern Songs
->   The Beatles 1
...

Tatsächlich aber lässt sich die Geburt einer ganz anderen Art von Cool exakt datieren: als nämlich Miles Davis im Jänner 1949 mit seinem Nonett die ersten Aufnahmen von Birth of the Cool einspielte, da wurde eine völlig neue Art der Gefühle geboren.

Damit hatte der McCarthyismus seine Antithese gefunden. Das Rohe und das Gekochte verflossen ineinander. Hot und Cool schlossen sich nicht mehr aus. Der Gegensatz war keiner mehr. Die Moderne hatte eine neue Synthese gefunden. Und: sie war ursprünglich und ursächlich aus einem der schrecklichsten vorstellbaren Gefühlszustände entstanden: aus dem Rassenhass, der die Sklaverei hervorgebracht hatte.
->   Miles Davis: Birth of the Cool
 
 
 
ORF ON Science :  Reinhold Wagnleitner :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick