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Peter Weinberger
Institut für Technische Elektrochemie und Festkörperchemie, Technische Universität Wien
 
ORF ON Science :  Peter Weinberger :  Wissen und Bildung 
 
Lieber Anton Zeilinger
Briefwechsel Teil 3
 
  Ich habe mir mit meiner Antwort etwas Zeit gelassen, um, ja, um über den Begriff "Weltbild" etwas länger nachzudenken. Er ist mir noch immer zu "idealistisch".  
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Dieser Artikel ist Teil eines Web-Briefwechsels zwischen Anton Zeilinger und Peter Weinberger, der als offener Gedankenaustausch in science.orf.at angelegt ist. Die vorangegangenen Briefe finden Sie unter den im folgenden chronologisch aufgelisteten Links:
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->   Peter Weinberger 1
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->   Anton Zeilinger 2
Der Begriff "Weltbild"
Ein Lexikon (z.B. Duden Lexikon) gibt üblicherweise zwei Definitionen an, nämlich (1) "Bezeichnung für die naturwissenschaftliche Vorstellung vom Bau des Weltalls", und (2) "der Gesamtbestand des Wissens eines einzelnen oder eines Zeitalters von der Welt und der Stellung des Menschen in ihr".

Beide Begriffserklärungen sind mir zu eng, vor allem auch, weil sie eigentlich Deinen Fragestellungen nicht gerecht werden. Ich persönlich ziehe jedenfalls "Ontologie" oder "ontologisch" vor: "Ontologie" beinhaltet Bewusstsein (Husserl; dein Hinweis auf Freud), wie auch Geschichtlichkeit (Heidegger) bzw. Geschichte (Lukacs).
Ideengeschichte im historischen Kontext
Du selbst hast - wiederholt - auf die Geschichte der Physik hingewiesen, sozusagen, als schönes Bespiel von menschlicher Ideengeschichte. Es mag schon sein, dass die Entstehung einer Idee (Einsteins spezielle Relativitätstheorie, wie von Dir erwähnt) sehr oft einer sehr komplexen, kaum nachvollziehbaren Situation entspringt.

Genauso gut kann man aber auch behaupten, dass der historische Kontext von ganz besonderer Wichtigkeit ist. Kopernikus, Galilei, Kepler und Newton sind ohne Renaissance nicht vorstellbar, ohne jenen gigantischen Bruch im menschlichen Selbstverständnis, der innerhalb von bloß 2 - 3 Generation erfolgte, und der u.a. von Giordano Bruno bis Leonardo da Vinci reicht.
Einsteins Forschung dank Aufklärung
In gewisser Weise sind die Bilder eines Piero della Francesca genauso "revolutionär" wie die Verabschiedung vom heliozentrischen Weltbild. Gleiches trifft offenbar auf den Beginn und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu. Es bedurfte der Aufklärung, eines Toleranzpatents, einer Assimilation der Juden, um Albert Einstein überhaupt erst zu ermöglichen, sich mit Naturwissenschaften zu beschäftigen.

Ein Jahrhundert davor wäre er vermutlich bestenfalls Rabbiner oder - zur Not - geduldeter Kaufmann geworden ¿ . Und was Mach betrifft, den Du erwähnst, so sehr er Einstein und andere beeinflusst hat, Ludwig Boltzmann (und damit der statistischen Physik) ist er jedenfalls feindlich gegenüber gestanden.
Gesellschaft und Geschichtlichkeit
Geschichtlichkeit impliziert auch materielle und politische Veränderungen in der Gesellschaft. Ohne die auf Napoleon zurückgehenden Ingenieursschulen hätte die französische Mathematik des 19. Jahrhunderts wohl kaum einen derartig großartigen Aufschwung genommen: sie beherrscht zum Teil noch immer unserer eigenes physikalisches Denken (Quantenmechanik; Poincare).

Zugegeben: mitunter liegen Ideen geradezu in der Luft. Mitte der Zwanzigerjahre mühte sich Schrödinger in Zürich entsetzlich mit dem radialen Anteil in seiner Gleichung für das Wasserstoffatom ab, kurze Zeit später (vermutlich unabhängig davon) taucht dieses Problem als Übungsbeispiel in der ersten Ausgabe von Courant-Hilbert auf ¿ .
Kulturunabhängige Mechanismen?
Deinen Hinweis auf andere Kulturen, auf die Tatsache, dass Widersprüche zu einer Änderung einer Position führen müssen, und zwar unabhängig von einer betreffenden Kultur, finde ich äußerst interessant, denn gelegentlich trifft man schon auf die Meinung, die "modernen Naturwissenschaften" seien eine europäische (westliche) Angelegenheit.

Ob Dein Hinweis auch tatsächlich konsequent auf unsere westliche Kultur zutrifft, fällt einem allerdings manches Mal schwer zu glauben, insbesondere, wenn man an die anhaltende Diskussion über Schöpfungsgeschichte und Evolutionstheorie in den USA denkt.
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Genauere Informationen zu der Diskussion um Schöpfungsgeschichte und Evolutionstheorie finden Sie in science.orf.at
->   Streit um die Evolution in den USA
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Zeitmessung = "Hochkultur"?
In Zusammenhang mit Kultur, gibt es übrigens eine weitere faszinierende Fragestellung, nämlich, ob das Entstehen von "Hochkultur" mit der Fähigkeit, die Zeit zu messen verbunden ist.

Die Wiederkehr von Monaten, Jahreszeiten "wissenschaftlich" festzuhalten erscheint so als eines der allerersten physikalischen Probleme. Die Verknüpfung von Ort mit Zeit ist allerdings Newton vorbehalten, eine Idee, deren "Entstehungsgeschichte" zumindest so spannend ist, wie die von der speziellen Relativitätstheorie.
Die "disziplinäre Zukunft" der Physik
Vielleicht ist Deine Frage nach einem neuerlichen "Weltbild-Sprengsatz" auch darauf ausgerichtet, zu erkunden, mit welcher Disziplin sich die Physik in Zukunft wohl verbinden werde, so, wie sie sich ja bereits jetzt innerhalb der Biologie neuen, für sie ungewohnten Problemen zugewandt hat?

Ist es Psychologie, die Frage von "artificial intelligence", die Frage nach Kodierung und (elektrischen) Transport im Gehirn und in Nervenbahnen? Die Frage nach dem Bewusstsein eines Einzelnen? Oder wird es gleich eine Frage nach dem Bewusstsein einer Gruppe von Menschen sein, die Frage nach einem "kollektiven Bewusstsein" (und dessen Manipulation)?

Es scheint in der Tat "unwirklich" lange her zu sein, als das Zitat aus Josua: "Sonne, bei Gibon halt still ¿. . Die Sonne stand an der Hälfte des Himmels, sie sputete sich nicht einzugehen, wohl einen ganz Tag ¿" als wissenschaftliches Argument gegen das Kopernikus-Weltbild diente. Wir sollten allerdings nicht zu sehr diesen - aus unserer Sicht - Irrationalismus belächeln: es ist lediglich an die sechzig Jahr her, als die Relativitätstheorie als jüdisches Hirngespinst verdammt wurde.
Wissenschaft: Verwertbarkeit vs. Wert
Viel besorgter als über den "Weltbild-Sprengsatz" bin ich jedoch über das zur Zeit vorherrschende Verständnis von der Verwertbarkeit der Naturwissenschaften (der Wissenschaften an sich), von einem offensichtlich zu utilitaristischen Zugang zu Grundlagenforschung.

Wenn ich lese, dass der österreichische Forschungsrat - immerhin von der Regierung eingesetzt - befindet, dass Institutsmitarbeiter sich künftig nur in einem Fünftel ihrer Dienstzeit frei der Forschung widmen sollen, dass die Arbeit an Universitätsinstituten großteils an Projektaufträge zu binden sei, dann frage ich mich sehr wohl, ob Einstein diesen Auflagen gerecht werden im Stande gewesen wäre, wo doch die spezielle Relativitätstheorie zu seiner Zeit als absolut nutzlos betrachtet wurde.
Die Kategorie Nützlichkeit
Ich frage mich, ob unsere Arbeitsgebiete auch zu den Orchideenfächern gezählt werden; ob im Verständnis des Forschungsrates nicht alles, das über die Nützlichkeit einer Prüfmethode für eine Schweißnaht hinausgeht, auf den bewussten freien Forschungstag zu fallen hat.

Zur Zeit von Galileo Galilei wurde auch argumentiert, dass es nützlicher für die Menschen sei, wenn sich die Sonne um die Erde dreht. Nützlichkeit ist lediglich eine der Kategorien, mit der Wissenschaften beurteilt werden können. Ohne Zweifel eine sehr wichtige Kategorie, aber ¿ .

Übrigens, in meinem Büro habe ich ein Portrait von Albert Einstein hängen, eines der berühmten Portraits Roman Vishniaks aus Einsteins Zeit in Princeton. Es soll mich an den humanitären und zu gleich aufklärenden Charakter von Physik erinnern.


Mit lieben Grüßen


Peter
 
 
 
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