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Peter Weinberger
Institut für Technische Elektrochemie und Festkörperchemie, Technische Universität Wien
 
ORF ON Science :  Peter Weinberger :  Wissen und Bildung 
 
Lieber Anton Zeilinger
Briefwechsel Teil 4
 
  Der historische Kontext, den ich meine, hat recht wenig mit Zeitgeist gemein, sondern vielmehr mit den sozialen Veränderungen, die sich nach dem Ausgleich Österreich-Ungarns vollzogen haben.  
Dieser Artikel ist die Fortsetzung eines Web-Briefwechsels zwischen Peter Weinberger und Anton Zeilinger, der als offener Gedankenaustausch in science.orf.at angelegt ist. Den letzen Brief von Anton Zeilinger finden Sie im unten angeführte Link.

Anton Zeilinger: Lieber Peter Weinberger!
Ein quantenmechanisches Pantheon
Die zunehmende Verstädterung (z.B. die gewaltige Bevölkerungszunahme Wiens), eine einsetzende Chancengleichheit auch für Minderheiten, insbesondere aber die Assimilation der Juden; Frauen wurden zum ersten Mal zum Universitätsstudium zugelassen (siehe u.a. Biographien von Liese Meitner).

Es ist wohl kaum ein Zufall, dass sehr viele Juden den Eingang in das quantenmechanische bzw. mathematisch-physikalische Pantheon gefunden haben: die von ihnen aufgefundenen Theoreme bestimmen unseren physikalischen Sprachgebrauch, der sich nunmehr wohlgeordnet u.a. zwischen der Born-Oppenheimer Näherung und dem Wigner-Eckart Theorem bewegt.

Was vielfach heute als die Faszination von Wien um 1900 empfunden wird, hat durchaus greifbare historische Wurzeln, die nicht nur beschönigend zu sehen sind - wie etwa die Darstellungen eines Carl Schorske - es gehört dazu auch die Entstehung des politischen Antisemitismus, der übrigens meiner Meinung nach solange nicht als überwunden zu betrachten ist, als es Strassen und Plätze in Wien gibt, die nach Lueger benannt sind.
Unterhaltung über Forschung
Aber dies soll nicht das Thema meines heutigen Briefes an Dich sein. Wir wollten uns über Forschung unterhalten, vor allem auch, weil zur Zeit ganz offensichtlich dieses Thema sogar so manche ernstzunehmende Tageszeitung beschäftigt.

Ich habe vor einiger Zeit versucht, Forschung nach Forschungsziel und Forschungszeithorizont einzuteilen. Hier ist zunächst meine kurze Zusammenfassung, erst dann werde ich auf deine Anmerkungen eingehen.
Forschung & Forschungspolitik
Forschung und Forschungspolitik sind durch zwei wesentliche Aspekte bestimmt, nämlich (1) das Forschungsziel und (2) den damit verbundenen Zeithorizont.

Das Forschungsziel kann durch Verwertbarkeit (materielle, kulturelle, gesellschaftliche) Verwertbarkeit bestimmt sein, es kann sich sehr wohl aber auch nicht absehbar verwertbaren Themen widmen.

Diese Art von Themen, die sehr oft unpassend (und abwertend) als Grundlagenforschung bezeichnet werden, ergeben sich sowohl in den Naturwissenschaften (z.B. Elementarteilchenphysik) als auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften (z.B. Teile der Philosophie).
Zeithorizont
Der Zeithorizont bedingt strukturelle Momente. Üblicherweise unterscheidet man Kurzzeitforschung (< 1 Jahr), längerfristige Forschung (< 5 Jahre) und Langzeitforschung (5 - 15 Jahre). Die Verwertbarkeit ist durch den Zeithorizont bestimmt: Industrie- und außeruniversitäre Forschung fällt unter Kurzzeitforschung, universitäre und außeruniversitäre Forschung unter längerfristige Forschung, Schwerpunktforschung stellt (universitäre) Langzeitforschung dar. Die Forschungsstruktur ergibt sich daher aus dem Zeithorizont.

Werden beide Kategorien miteinander verbunden, dann liegt Forschungspolitik vor. Diese hat sowohl auf gesellschaftliche Anforderungen, wie auch auf ökonomische Bedingungen und Gegebenheiten Bedacht zu nehmen.
Industrieforschung unterentwickelt
Österreichische Forschungspolitik muss davon ausgehen, dass hierzulande Industrie- und außeruniversitäre Forschung äußerst unterentwickelt ist und bestenfalls auf der Produktionsebene (nicht Hochtechnologie) stattfindet.

Dies hatte bisher zur Folge gehabt, dass vielfach selbst Kurzzeitforschung den Universitäten aufgedrängt worden ist (Stichwort: Vorwurf der "fehlenden Praxisnähe" als Ausrede für fehlende, eigenständige Industrieforschung). Jede Art von zukunftsorientierter Forschungspolitik hat daher dringendst die Schaffung von Kurzzeitforschungsstätten, sei es außeruniversitäre Institutionen oder Fachhochschulen, vorzusehen.
...
Bestimmende Strukturen
Die sich aus dem Zeithorizont von Forschung ergebenden Strukturen bestimmen zum Teil auch die Struktur von Universitäten. Neben der Aufgabe als Bildungsinstitution haben sie im wesentlichen die Agenden von längerfristiger Forschung und von Langzeitforschung zu übernehmen. Dies vor allem, weil für diese beiden Forschungskategorien nicht nur Internationalisierung im Bereiche Europäischen Union, sondern weltweit zutrifft. In diesem Sinne ist auch die Frage nach "Standortbereinigung" zu beantworten. Als Bildungsinstitutionen unterliegen Universitäten lokalen, sozialen (demographischen) Bedingungen, die allerdings für Forschungsinstitutionen irrelevant sind. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind bisher weder in den entsprechenden Universitäts- und Forschungsorganisationsgesetzen enthalten, noch in einem adäquaten Dienstrecht.
...
Eines muss allerdings von Anbeginn klar sein: eine ausschließliche Ausrichtung von Universitäten nach Praxisrelevanz bedeutet nicht nur eine Reduktion auf Kurzzeitforschungsstätten. Gesellschaftlich gefährliche Kurzsichtigkeit kann sich auf diese Art und Weise sehr rasch in Antiintellektualismus und Provinzialismus (status quo) verwandeln.
Nun zu meinen Anmerkungen dazu und damit zurück zu Deinem Brief:
Du hast selbstverständlich recht, dass Grundlagenforschung vor allem "curiosity driven" ist: die Neugierde, die Spekulation sind die wesentlichsten Triebfedern von

Grundlagenforschung, und sie waren es auch immer schon. Galileis Kampf um das heliozentrische Weltbild hat keinerlei unmittelbare Verwertung im Sinne gehabt, vielleicht stellten dies eher schon die Jupitermonde ("Medici Sterne") dar, nämlich als Orientierungshilfe für die Schifffahrt. Es ist aber schon sehr oft der Fall, dass nach "einiger Zeit" sich eine Verwertbarkeit, sozusagen als "spin-off" Effekt, einstellt (man denke nur an die Laserphysik).
Keine Großforschungseinrichtung nötig
Bloß, "nach einiger Zeit" kann auch eine oder mehrere Generationen bedeuten. Ich bin auch deiner Meinung, in Österreich benötigen wir nicht unbedingt eine Großforschungseinrichtung, um international "gesellschaftsfähig" zu werden.

Wir haben in der Tat keinerlei Mangel an sehr guten jungen Wissenschaftlern. Sehr wohl mangelt es an Möglichkeiten, diese im Land zu behalten. Das neue Dienstrecht scheint hier eher kontraproduktiv zu sein.
Mangel an entsprechenden Strukturen
Es mangelt aber auch an entsprechenden Strukturen für angewandte Forschung (kurzfristige oder mittelfristige): Technologieparks, die von der örtlichen Nähe zu Universitäten leben, umfassende Forschungsgesellschaften, mit wohldefiniertem Auftrag wie etwa die Frauenhofer-Gesellschaft in Deutschland oder die National Laboratories in den USA, sind hier nicht weiter bekannt.

Selbst die vereinzelt existierenden außeruniversitären Institutionen haben keinerlei Zusammenhang: keine Gesellschaft verbindet sie zu gemeinsamen Zielen. Sie sind entweder "gewinnbringend an sich" oder geduldete Kuriositäten.
Angewandte Forschung ist wichtig
Wir von den Universitäten machen sehr oft den Fehler, sofort und ausschließlich auf "curiosity driven" Grundlagenforschung hinzuweisen, fast so, als ob wir vor gesellschaftlichem Verwertbarkeitsdruck Angst hätten. Angewandte Forschung ist von großer Wichtigkeit für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes.

Es liegt allerdings an uns, klar zu machen, dass diese Art von Forschung auch eigener Strukturen bedarf; dass sie nicht notwendigerweise von den Universitäten zu verfolgen ist. Wortschöpfungen wie "Technische Physik" machen für mich wenig Sinn: entweder Physik oder Technologie (die selbstverständlich einiges an Physik, Chemie, Verfahrenstechnik, Maschinenbau, etc., benötigt).
Auswahl durch Wissenschaftler
Ich bin durchaus Deiner Meinung, dass innerhalb der Grundlagenforschung die Wissenschaftler selbst in der Lage sein sollten, die "besten zu identifizieren und primär zu fördern" (Dein Sprachgebrauch).

Zum Teil sorgt dafür die Internationalität von Wissenschaft an sich, internationale Leistungsnormen, zum anderen Teil wird dies aber erschwert durch die Kleinheit unseres Landes, durch partikuläre Interessen so mancher Bundesländer, durch die Unbeweglichkeit vieler unserer Kollegen (das Sprichwort "den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen" ist sehr oft nicht unpassend), durch historisch gewachsene Organisationsstrukturen, hinter denen sich mitunter nur Privilegien verstecken.
'Entlassung' in die Autonomie
An diesem Zwiespalt wird auch ein "Entlassen in die Autonomie" wenig ändern: Universitäten sind Teil der geistigen Infrastruktur eines Landes, genauso, wie Eisenbahnen und Strassen zur materiellen Infrastruktur gehören, für die der Staat selbstverständlich ausreichend (!) Vorsorge zu treffen hat, aus der Verantwortung dafür, er sich nicht davonstehlen darf. Taxi Orange oder Musikantenstadl jedenfalls sind ungeeignet, Forschung an sich, insbesondere aber Grundlagenforschung, zu beurteilen (auch wenn es noch so populär sein mag).

Mit lieben Grüßen

Peter
P.S.
PS.: Über Renaissance, humanistische Bildung, Bildung an sich, sollten wir uns einmal anlässlich eines gemeinsamen Besuches im Wiener Kunsthistorischen Museum unterhalten, weil es dabei nicht nur um Homer oder Ovid geht, sondern auch um die bildliche Darstellung von in Vergessenheit gefallenen menschlichen Qualitäten.
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Die vorangegangenen Teile des Web-Briefwechsels zwischen Anton Zeilinger und Peter Weinberger finden Sie unter den im folgenden chronologisch aufgelisteten Links.
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->   Peter Weinberger 1
->   Anton Zeilinger 1
->   Peter Weinberger 2
->   Anton Zeilinger 2
->   Peter Weinberger 3
->   Anton Zeilinger 3
 
 
 
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