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ORF ON Science :  Peter Filzmaier :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Die Anfänge der Lebenslüge 1896-1912
Politische Aspekte der Olympischen Spiele (I)
 
  Olympische Spiele wollten unpolitisch sein und waren es nie. Hitlers Spiele in Berlin 1936, erste Boykottbewegungen nach dem Ungarn-Aufstand in Melbourne 1956, Boykott der Afrikaner in Montreal 1976 bzw. Boykott und Gegenboykott der Supermächte in Moskau 1980 und Los Angeles 1984, Black Power-Proteste in Mexico City 1968 und insbesondere der palästinensische Terroranschlag von München 1972 sind Allgemeinwissen - und doch nur Spitze eines politischen Eisbergs.  
Sind daher Frieden, Völkerverständigung und Diskriminierungsverbot als idealistische Ziele der antiken und modernen Spiele zugleich deren Lebenslüge? Abgesehen davon, dass solche Vorgaben selbst Teil der - in diesem Fall theoretisch positiven - Politisierung Olympias sind, klafften Anspruch und Wirklichkeit von Beginn an weit auseinander.
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Artikelserie
Peter Filzmaier schreibt anlässlich der Sommerspiele in Athen eine Artikelserie zu den politischen Aspekten der Olympischen Bewegung - von den Anfängen ihrer Wiederbelebung in der Neuzeit bis zur Gegenwart.
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Friedensgedanke übernommen, mangelhafter Realitätsbezug
Im Jahr 800 vor Christi Geburt schlossen König Iphitos von Elis und der spartanische Gesetzgeber Lykurg einen Vertrag, der eine Waffenruhe für die Zeit des olympischen Festes sichern sollte. Dieser historische Friedensgedanke wurde für die modernen Spiele übernommen.

Pierre de Coubertin, Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit, offenbarte zugleich seinen mangelhaften Realitätsbezug: "Ich fände es richtig, dass die gegnerischen Armeen mitten im Kriege kurze Zeit ihre Kämpfe unterbrechen, um ehrliche und ritterliche Muskel-Spiele zu feiern."
Kriege unterbrechen Olympiaden, nicht umgekehrt
Unterbrochen wurde selbstverständlich der Rhythmus der Olympiaden, wenn es zu Kriegen kam, nicht etwa umgekehrt. Handelte es sich in der Antike um einen Gottesfrieden, der durch ein sakrales Gesetz gesichert war, und dessen Bruch mit Geldbußen sowie Ächtung der Frevler bestraft wurde, sind solche Vorstellungen nicht erst seit dem Münchner Terroranschlag vor über 30 Jahren lächerlich.

Seit dem 11. September müssen aus Sicherheitsgründen für die Olympischen Spiele mehr militärische Mittel aufgewendet werden, als für Kriege erforderlich sind.
Bühne für nationale Forderungen
Als ähnlich irreal erwies sich im Friedenszusammenhang der Gedanke der Internationalität als Völkerverständigung. Böhmen (damals bei Österreich), Irland (unter englischer Herrschaft) oder Finnland (als Teil Russlands) erkannten in ihrem Streben nach Selbstständigkeit von 1900 in Paris bis 1912 in Stockholm eine jeweils vierjährige Chance, ihre politischen Forderungen bis hin zur Bereitschaft für einen Unabhängigkeitskampf auf olympischer Ebene international zu präsentieren.
Beispiel: Deutsch-französischer Konflikt
Das Nationalgefühl sollte mittels der Olympischen Spiele durch ein Weltbürgertum ersetzt werden. Am deutlichsten traten die nationalistischen Gegensätze aber im deutsch-französischen Konflikt hervor. 1896 wollte Frankreich nicht teilnehmen, weil auch Deutschland vertreten war.

Der Franzose Coubertin soll in einem Interview seiner Hoffnung Ausdruck verliehen haben, die Deutschen - sie waren auch nicht unter den Gründungsmitgliedern des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) vertreten - aus der Olympischen Bewegung ausschließen zu können.
Nationalistische Auswüchse auf beiden Seiten
1900 kam es in Paris zur Eskalation des Konflikts, als Deutschlands Sportler ausgerechnet in Kasernen mit französischen Soldaten untergebracht wurden. Zuerst gab es gar keine Betten, dann verstanden nationalistische Franzosen den Umstand zu nutzen, dass die Quartiere nicht verschließbar waren. Die Zimmer waren eines Tages voll von Urin und Fäkalien sowie mit Wandinschriften wie "Couchons!", "A bas la Prusse!" und "Vive la France!" verziert.

Ein seltsames Mittel um "durch Olympische Spiele die Schmach Frankreichs [nach der Niederlage im Krieg 1870/71] zu tilgen" (Coubertin). Bedauernswert waren freilich nur die Sportler, während die deutschen Sportvereinigungen vice versa keine Gelegenheit ungenutzt ließen, um die Olympischen Spiele zur Förderung anti-französischer Stimmungen heranzuziehen.

Schon die Turner aus Deutschland in Athen 1896 hatten als Landesverräter des heimatlichen Nationalismus gegolten und wurden nach ihrer Rückkehr von der Turnerschaft ausgeschlossen.
Anglo-amerikanische Provokationen 1908
Nahtlos folgte einer Fülle anglo-amerikanischer Provokationen und Insultationen während der Spiele in London 1908. US-Fahnenträger Sheridan erklärte, dass seine Stars and Stripes-Flagge vor keinem irdischen Herrscher - und folgerichtig auch nicht auf der Eröffnungsfeier zu Ehren König Edward VII. - zu senken.

Alle Olympiasieger erhielten neben der Goldmedaille ein in den Union Jack gewickeltes Eichenlaub. Die Olympioniken der USA führten dafür einen gefesselten (Stoff-)Löwen als Symbol für unterlegene Sportler aus Großbritannien vor.
"Völkerverständigung": Austragung von Konflikten
Der 400 Meter-Lauf wurde zur sportlichen Farce, weil zwei Amerikaner angeblich einen Briten behinderten, und daraufhin ein heimischer Kampfrichter den dritten Amerikaner mitten im Rennen gewaltsam stoppte.

Nach einer Anekdote klingend, symbolisierte der Fall die Interessengegensätze zwischen dem an Einfluss verlierenden Weltreich Großbritanniens und der neuen Großmacht USA. Das politische Forum für den Konflikt lieferten die Olympischen Spiele inklusive ihrer vermeintlichen Völkerverständigung.
Diskriminierungsverbot mit vielen Ausnahmen
Das Diskriminierungsverbot der Olympischen Spiele bezog sich auf "Rasse", Religion und politische Überzeugung, doch hatten Frauen und wirtschaftlich schlechter gestellte Personen lange Zeit in Olympia nichts zu suchen. Nicht nur in Berlin 1936, sondern bereits seit 1896 waren Menschen mit anders pigmentierter Haut, nicht-christliche Gläubige und Andersdenkende unerwünscht.
Rassistisches Parallelspektakel in St. Louis 1904
Es dauerte bis 1904 bis mit George C. Poage ein afro-amerikanischer Athlet an den Spielen teilnahm. Überschattet wurde sein Auftritt von einem rassistischen Parallelspektakel der Weltausstellung in Saint Louis, wo es anthropologische Tage "zur Prüfung der alarmierenden Gerüchte über Schnelligkeit, Ausdauer und Kraft der wilden Stämme" - gemeint waren neben Afro-Amerikanern auch "Indianer", Philippinos, Ainos usw. - gab.

Die seltsame Schaustellung der Minderheiten zur Erheiterung des Publikums im rassistischen Süden der USA erhielt Lob als "die ersten Wettkämpfe, die jemals ausschließlich für Wilde veranstaltet wurden". Coubertin empörte sich lediglich darüber, dass von ihm als "Kulturvölker" anerkannte Türken und Syrer auf eine Stufe seinerseits als nicht gleichwertig gesehenen Völkern gestellt wurden.
Propagandawert auch von Nazis entdeckt
Ist es vor einem solchen olympischen Hintergrund überraschend, dass wenig später von Siegen gegen "Nigger" und bei Niederlagen von "Rassenschande" gesprochen wurde? Das nationalsozialistische Regime entdeckte den Propagandawert der Olympischen Spiele relativ spät im Jahr 1933.

Wurzeln für eine rassistische Instrumentalisierung der Spiele wurden aber vor dem Ersten Weltkrieg gelegt.
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