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ORF ON Science :  Peter Filzmaier :  Gesellschaft 
 
Der Kalte Krieg der Supermächte 1948-1992  
  Politische Aspekte der Olympischen Spiele (IV)
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg galten US-Olympioniken als "athletische Missionare". Nach der 1945 beginnenden sowjetischen Annäherung an die Olympischen Spiele als vormals bourgeoise Veranstaltung strebte das Zentralkomitee der KPdSU vermehrt internationale Sporterfolge als Beweis für die Überlegenheit des kommunistischen Gesellschaftssystems an.
 
Völkerverständigung als Treppenwitz
Von Helsinki 1952 bis Seoul 1988 prallten Sportler aus den Supermächten in olympischen Stellvertreterkriegen aufeinander. Nur die Spiele boten die Möglichkeit, den Anti-Kommunismus bzw. Anti-Amerikanismus außerhalb des eigenen Einflussbereichs und ohne politische Nachteile oder Risken - man denke an den atomaren "Overkill" - hemmungslos auszuleben. Das olympische Ideal der Völkerverständigung wurde zum Treppenwitz.
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Artikelserie
Peter Filzmaier schreibt anlässlich der Sommerspiele in Athen eine Artikelserie zu den politischen Aspekten der Olympischen Bewegung - von den Anfängen ihrer Wiederbelebung in der Neuzeit bis zur Gegenwart.
Teil 1: Die Anfänge der Lebenslüge 1896-1912 (3.8.04)
Teil 2: Der Fall Deutschland 1920-1932 (6.8.04)
Teil 3: Die Nazi-Olympiade 1936 (10.8.04)
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"Weltüberlegenheit" der Sowjetsportler
Es begann eine Blütezeit inoffizieller und vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) theoretisch verbotener Medaillen- und Punktewertungen. Radio Moskau und Prawda vermeldeten schon 1952, damals rechnerisch falsch, die "Weltüberlegenheit" der Sowjetsportler.

Als Valeri Borsow 1972 in München in den prestigeträchtigen Läufen über 100 und 200 Meter siegte, und die UdSSR im Basketball-Finale die USA als Gewinner aller bisherigen Olympiaturniere entthronte, verhinderte nur der gleichzeitige Terroranschlag den totalen Propagandatriumph.
Inflationäre Medaillenspiegel
US-amerikanische Medien reagierten mit inflationären Medaillenspiegeln, wenn diese wie in Mexico City - mit dem groben Schönheitsfehler der Black Power-Proteste siegreicher Afro-Amerikaner - für das eigene Land vorteilhaft waren, und ließen solche Spiegelbilder durch Selbstzensur verschwinden, wenn sie beispielsweise nach der ersten Olympiawoche in Seoul ein allzu rot-rotes Bild sowjetischer und ostdeutscher Siege boten.

Zur sowjetischen Dominanz waren seit 1956 (bis 1964 formal in einer gesamtdeutschen Mannschaft) DDR-Siege hinzugekommen.
Höhepunkt nach Einmarsch in Afghanistan
Nach vielen Scharmützeln von der Unterstellung, der US-Geheimdienst würde Sexspioninnen zur Ablenkung und Erschöpfung sowjetischer Sportstars aussenden, bis zu Kleinkriegen bei der Visa-Vergabe für Sportmannschaften erreichte der Kalte Krieg nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan am Weihnachtstag 1979 seinen olympischen Höhepunkt.
USA-Boykott der Spiele in Moskau
Die Verletzung der Grundrechte sowjetischer Dissidenten hatten zwar vorher in den USA eine Boykottdiskussion der Moskauer Spiele 1980 ausgelöst, doch wurde diese von staatlicher Seite nicht unterstützt. Nach der Besetzung Afghanistans stieg der öffentliche Druck auf die Regierung. Im Unterschied zu Berlin 1936 war eine klare Mehrheit der US-Bevölkerung von bis zu 75 Prozent gegen eine Teilnahme in Moskau.

Präsident Jimmy Carter, sein Außenminister Cyrus Vance und beide Häuser des Kongresses verabschiedeten Ultimaten für einen Rückzug der UdSSR aus Afghanistan, um anderenfalls die Olympischen Spiele zu boykottieren.
Nur 81 von 144 Nationen nahmen teil
Weil weder das Einlenken der Sowjets noch eine Absage oder Verlegung der Spiele durch das IOC - dieses hatte ja nicht einmal für Hitlers Olympiade in Berlin einen Ausschließungsgrund gesehen - realistisch war, ging es den USA um eine Maximierung der Zahl der boykottierenden Länder.

81 der zu diesem Zeitpunkt 144 vom IOC anerkannten Nationalen Olympischen Komitees nahmen die Einladung an. Neben den USA fehlten insbesondere auch die Bundesrepublik Deutschland, Kanada und Japan.
Retourkutsche 1984 in Los Angeles
Vier Jahre später stellte sich die Frage, ob die UdSSR in Los Angeles die Chance für eine Retourkutsche ergreifen oder der Verlockung sportlicher Triumphe im Land des Erzfeindes erliegen würden.

Der Kalte Krieg hatte sich jedenfalls durch den sowjetischen Abschuss eines südkoreanischen Passagierflugzeugs, den NATO-Doppelbeschluss - nach ergebnislosen Abrüstungsverhandlungen in Genf wurden in Europa weitere (Pershing II-)Atomraketen stationiert - und der Landung von US-Truppen in Grenada neuerlich verschärft.
Antisowjetische Stimmung in den USA
Parallel dazu stieg die antisowjetische Stimmung in den USA. Es hieß "Schlagt die Russen, skalpiert die Rothäute!" Der oberste Sicherheitsbeauftragte in Los Angeles warnte, dass infolge politischer Abneigung und aus Kostengründen ausreichende Maßnahmen zum Schutz sowjetischer Sportler gescheut würden, und wurde prompt entlassen.

Der kalifornische Kongress verabschiedete sogar zwischenzeitlich eine Resolution, um Sportlern aus der UdSSR die Einreise in die USA und dadurch eine Olympiateilnahme zu untersagen.
Ostblock boykottierte, mit Ausnahme Rumäniens
Am 8. Mai 1984, 25 Tage vor dem Anmeldeschluss, verkündete die Nachrichtenagentur TASS die Entscheidung der UdSSR, nicht an den Olympischen Spielen in Los Angeles teilzunehmen. 19 Nationen bzw. Nationale Olympische Komitees, mit Ausnahme Rumäniens der geschlossene Ostblock, erklärten ebenfalls ihren Teilnahmeverzicht.
Politischer Misserfolg von Boykott und Gegenboykott
Ob Retourkutsche oder Resultat kurzfristiger Entwicklungen wurde niemals geklärt. Wahrscheinlicher als eine statische Theorie mit einer Boykottentscheidung schon 1980 ist ein dynamischer Theorieansatz, dass - vielleicht nach einem Machtkampf in der sowjetischen Führung, den Mikhail Gorbatschow 1983 noch gegen alt-kommunistische "Hardliner" verlor -, die Entwicklung des Kalten Krieges 1983/84 zum Boykott führte.

Sportlich kam, was kommen musste. 1980 in Moskau siegten sowjetische Sportler in 80 Bewerben und errangen insgesamt 195 Medaillen. 1984 in Los Angeles gewannen die USA 174 Medaillen, 83 davon aus Gold. Politisch waren Boykott und Gegenboykott letztlich ein Misserfolg, weil der Nationalismus auf beiden Seiten gestärkt wurde.
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"Die schöne Seite der Sache"
In der Los Angeles Times war zu lesen: "Seht die schöne Seite der Sache: Wenn die Sowjets nicht kommen, werden die USA leicht gewinnen. Wir werden im Kajak gewinnen, im Fechten und im Handball, was immer das alles sein mag. Wir werden so viele Medaillen gewinnen, dass es ein Spaß ist. Ich weiß, ich weiß, es ist nicht das gleiche, ob wir Costa Rica im Basketball-Finale 120:10 schlagen. Es würde mehr bedeuten, wenn wir die Russen schlagen. Es ist nicht dasselbe, wenn unsere Schwimmerinnen die Türken im Schmetterling schlagen, als wenn sie die Ostdeutschen schlagen. Und die Mannschaft des Tschad im Wasserball zu schlagen, ist sicher nicht das gleiche, als wenn wir die Ungarn bezwingen. Aber solange Medaillen vergeben werden, soll es uns egal sein. Das Leben ist zu kurz, als dass wir noch große Anstrengungen machen sollten zu erklären, wen wir auf der Radrennbahn geschlagen haben."
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Nicaragua: Bei Boykotts immer dabei
Das Paradoxon zur völligen Pervertierung der olympischen Idee lieferte übrigens Nicaragua. 1980 boykottierte man die Moskauer Spiele als US-Verbündeter, 1984 reiste man aus Solidarität zur UdSSR nicht nach Los Angeles.
Al Kaida spielt leider nicht Basketball
Nach Perestrojka und Glasnost, dem Zerfall der UdSSR und des in Warschauer Pakt und COMECON manifestierten Ostblocks sowie der letztmaligen Teilnahme Mannschaft der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) unter olympischer Flagge 1992 in Barcelona gab es keine dem Kalten Krieg vergleichbare Politisierung der Spiele mehr.

Grund dafür ist ein glücklicher Zufall der weltpolitischen Lage. Keinesfalls ist es ein Verdienst Olympias. Im Gegenteil, der Kriegsgewinner USA bedauert fast, dass ihm sein idealtypisches Feindbild zur politischen Instrumentalisierung des Sports zwecks Förderung des Hurra-Patriotismus abhanden gekommen ist.

Im Zeitalter des Terrorismus und dem Wahljahr 2004 wären zusätzliche Nationalismen für die Regierung Bush gut zu gebrauchen. Al Kaida jedoch spielt nicht Basketball.
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