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ORF ON Science :  Peter Filzmaier :  Gesellschaft 
 
Schwarzer September 1972  
  Politische Aspekte der Olympischen Spiele (V)

Es war nur eine Frage der Zeit. Die Olympischen Spiele waren stets ein Forum für politische Demonstrationen gewesen. Bis 1972 hatte sich jedoch die Politik am Veranstaltungsort und zur Zeit der Spiele auf gewaltfreie Aktionen beschränkt. Die dahinter stehende Gewalt blieb - zum Beispiel in Berlin 1936 - im Umfeld der Spiele verborgen. Doch entwickelte sich der Nahost-Konflikt im Stil einer Zeitbombe zum Problemfall für die Olympischen Spiele.
 
Eine Bombe, die vorerst nur tickte. Israel selbst hatte angesichts der israelisch-arabischen Kriege seit 1948 andere Sorgen, als die Olympiateilnahme seiner Sportler und eine politische Nutzung derselben zu forcieren.

In Melbourne, als drei arabische Länder (Ägypten, der Irak und der Libanon) wegen der Suez-Krise die Spiele boykottierten, waren lediglich drei israelische Sportler am Start. Bis 1968 starteten niemals mehr als 27 Israelis in den olympischen Sportbewerben. Medaillengewinne gab es nicht, die arabischen Länder waren ebenso keine Sportgroßmächte.
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Peter Filzmaier schreibt anlässlich der Sommerspiele in Athen eine Artikelserie zu den politischen Aspekten der Olympischen Bewegung - von den Anfängen ihrer Wiederbelebung in der Neuzeit bis zur Gegenwart.
Teil 1: Die Anfänge der Lebenslüge 1896-1912 (3.8.04)
Teil 2: Der Fall Deutschland 1920-1932 (6.8.04)
Teil 3: Die Nazi-Olympiade 1936 (10.8.04)
Teil 4: Der Kalte Krieg der Supermächte 1948-1992 (17.8.04)
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Lebensgefährliches Abwarten
Das passive Abwarten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) war trotzdem lebensgefährlich.

Entsprechend der politischen Tradition des IOC zugunsten einer politischen Realitätsverweigerung konnte durch Hinweise auf formale Gegebenheiten jedwede Thematisierung des Nahost-Konfliktes verhindert werden.

Das gelang, weil die Araber den - aus sportpolitischer Sicht - taktischen Fehler begangen hatten, keine Gegeninstitutionen als (halb-)offizielle Vertreter Palästinas oder des Gaza-Streifens aufzubauen.
Der 5. September 1972
Bild: dpa
Die Unmöglichkeit eines sportpolitischen Diskurses und die politische Aussichtslosigkeit eines Boykotts ließen aber angesichts der parallel zunehmenden Krisenhaftigkeit des Nahost-Konflikts die Bombe weiter ticken.

Am 5. September 1972 explodierte sie. Angehörige der palästinensischen Organisation "Schwarzer September" nahmen in deren Quartier israelische Sportler, Trainer und Funktionäre als Geiseln, und forderten die Freilassung von etwa 200 Arabern in israelischer Gefangenschaft.

Das Bild rechs vom 05.09.1972 zeigt zwei vermummte Terroristen auf dem Balkon des israelischen Quartiers.
Befreiungsversuch scheiterte
Eine Befreiungsversuch der Polizei auf dem Flughafen Fürstenfeld-Bruck in der Nacht vom 5. zum 6. September scheiterte. Neun israelische Geiseln, fünf arabische Geiselnehmer und ein deutscher Polizeibeamter wurden erschossen.

Bereits zuvor waren zwei Geiseln infolge von Schussverletzungen bei ihrer Gefangennahme gestorben. Der offizielle Sprecher der deutschen Bundesregierung erklärte kurz vor Mitternacht: "Man kann wohl sagen, diese Operation [die Befreiung] ist glücklich und gut verlaufen."

Erst die bayrische Landesregierung gab am Folgetag das Ergebnis der Befreiungsaktion bekannt.
Ein Terroranschlag ohne Konsequenzen
Bild: dpa
Die Olympischen Spiele wurden mit eintägiger Unterbrechung nach einer Trauerfeier fortgesetzt. Paradoxerweise blieb der Terroranschlag politisch und olympisch ohne Konsequenzen.

Die Reaktionen der Weltöffentlichkeit ließen erkennen, dass Feindschaften gegenüber den Palästinensern verstärkt wurden, und Freunde nur sehr vorsichtig ihre Solidarität erklärten. Die Sympathiekundgebungen für Israel waren in der Überzahl.

Das Archivbild rechts vom 05.09.1972 zeigt einen bewaffneten Polizeibeamten im Trainingsanzug, der den Block im Olympischen Dorf in München abschirmt, in dem die Terroristen die israelischen Sportler festhielten.
Keines der Terrorziele wurde erreicht
Als entscheidender Unterschied zum Al-Kaida-Terror des 21. Jahrhunderts gab es konkrete Zielsetzungen - von der Freilassung inhaftierter Palästinenser bis für einen palästinensischern bzw. gegen einen israelischen Staat -, während Osama bin Laden Destabilisierung per se anstrebt.

Doch keines der damaligen Terrorziele wurde erreicht. Die Zulassung der Palästinenser zur Nahost-Debatte auf der 29. Generalversammlung der Vereinten Nationen im November 1974 stand in keinem zeitlichen oder inhaltlichen Kausalzusammenhang mit der Münchner Geiselnahme.

Anschläge wie in München drohten vielmehr den Dialog zu gefährden. Das wurde jedoch nicht als Ziel der Geiselnehmer definiert.
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Schweigen der UdSSR
Im an sich weltpolitisch dominanten Ost-West-Konflikt schwieg die UdSSR zu den Ereignissen in München. Weil der Terror bzw. die Geiselnahme sich in einem NATO-Land ereigneten, ergab sich eine propagandistische Schwächung des Westens, die man nicht durch Mitleidsbekundungen ausgleichen wollte. Nur die tschechische, polnische und ungarische Presse bedauerte die Vorfälle.
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"The Games must go on!"
Auf olympischer Ebene hieß es "The Games must go on!". Nicht nur in München, sondern für immer. Ein Nachgeben hätte 1972 ein wirtschaftliches Desaster ausgelöst, vor allem aber für das IOC einen bis heute und insbesondere nach dem 11. September 2001 gefährlichen Präzedenzfall geschaffen.

Bereits kurzfristig hätte sich die Bundesrepublik Deutschland als Organisator der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 mit der nächsten Absagegefahr konfrontiert gesehen.
Argumentationsproblem
Ausschlaggebend für die Entscheidung des IOC war zugleich ein Argumentationsproblem: Nicht einmal Adolf Hitlers Propagandaspiele, ebenfalls in Deutschland, waren abgesagt oder wenigstens verlegt worden.

Wie sollte man einen nunmehrigen Abbruch erklären, wenn IOC-Präsident Brundage sogar im Rückblick die damalige Veranstaltung als ohne kriminellen Druck der Nazis gelungen ansah?
Die scheinbare Perfektion der Sicherheit
Hinzu kommt der psychologische Faktor. Niemand ist gern willfähriges Opfer einer Erpressung und muss die eigene Ohnmacht eingestehen. Einzige Langzeitfolge des Terrors aus Sicht der olympischen Bewegung sind daher verbale Verurteilungen als Selbstverständlichkeit und eine scheinbare Perfektionierung der Sicherheitsmassnahmen.

Der nächste Terroranschlag kann - wann auch immer - allerdings zeigen, wie ohnmächtig Olympia ist.
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