Jörg Flecker
FORBA -Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt
 
ORF ON Science :  Jörg Flecker :  Technologie 
 
Mythen der Informationsgesellschaft (Teil I)  
  Neue Informations- und Kommunikationstechnologien machen Arbeit unabhängig von Ort und Raum. Diese populäre These trifft auf weniger Tätigkeiten zu, als man gemeinhin annimmt.  
Die Relativität geografischer Distanzen
Elektronische Kommunikation, Zugriff auf Information von überall und Austausch von großen Datenmengen über weite Entfernungen: all dies hat die Bedeutung geografischer Distanzen für das Wirtschaftsleben radikal verändert.

Mit der Verbreitung des Internet wurde diese Tendenz für alle augenfällig. Bewirkt diese ¿neue Belanglosigkeit des Raums¿ (Zygmunt Bauman), dass informationsverarbeitende Tätigkeiten tatsächlich überall auf der Welt ausgeführt werden können, wo es eine entsprechende Infrastruktur dafür gibt?
Von Telearbeit ...
Technische Entwicklungen beflügeln häufig die Phantasie, die Entwicklungen der Informationstechnologie lösten schon mehrmals Diskussionen über die Zukunft der Arbeit aus. Zu den Perspektiven der Telearbeit, insbesondere der Teleheimarbeit, entstand seit den 80er Jahren eine umfangreiche Literatur. Es wurde prognostiziert, dass im Jahr 2000 ein großer Teil der Beschäftigten in dieser Arbeitsform tätig sein werde.

Tatsächlich blieb der Anteil der ¿TelearbeiterInnen¿ bis Ende der 90er Jahre mit etwa 1 Prozent der Erwerbstätigen in Österreich jedoch sehr niedrig. Und bei diesen handelt es sich zum Gutteil um Selbständige und um höher qualifizierte Männer. Das entspricht so gar nicht dem häufig kolportierten Bild der Text- oder Datenerfasserin, die mit dem Baby auf dem Arm zu Hause am PC sitzt.
... zu Call Centres
In den letzten Jahren wurden Call Centres, also Einrichtungen zur telefonischen und computergestützten Kundenbetreuung, zum Inbegriff ortsunabhängiger ¿e-work¿. Zur Kostensenkung wird von den Möglichkeiten der Aus- und Verlagerung häufig Gebrauch gemacht, und es werden, beispielsweise von Versicherungen, die ¿Produkte¿ der Unternehmen vereinfacht, damit sie über das Telefon verkauft werden können.

Die einen sehen in der Verbreitung von Call Centres willkommene und förderungswürdige Arbeitsplätze, die anderen bedenkliche Arbeitsbedingungen in High-Tech-Umgebung. Die kontroverse Diskussion läuft noch, doch der Boom scheint vorüber zu sein: Die Konkurrenz unter den Call Centres ist groß, einfache Telefondienste werden bereits durch Selbstbedienung der Kunden über das Internet ersetzt.
Virtuelle Unternehmen ?
Häufig ist davon die Rede, dass die Auslagerung und neue räumliche Verteilung von Arbeit nicht auf klar abgrenzbare Aufgaben, wie jene der telefonischen Kundenbetreuung, beschränkt bleibt.

Vielmehr würden die Betriebe und Unternehmen, wie wir sie bisher kennen, mehr und mehr aufgelöst und durch flexible, grenzüberschreitende Netze bestehend aus Kleinbetrieben und Selbständigen ersetzt. Entspricht dieses Bild der Realität? In welchem Umfang werden informationsverarbeitende Tätigkeiten nach außen vergeben bzw. verlagert?
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Die EMERGENCE-Studie
In einer breit angelegten Unternehmensbefragung, deren Ergebnisse nun vorliegen, wurde erstmals europaweit erhoben, wie verbreitet ¿e-work¿, also durch Telekommunikation eingebundene Arbeit außerhalb des Unternehmens, tatsächlich ist. Überraschend ist weniger die relativ große Verbreitung von ¿e-work¿ insgesamt: Fast 50 Prozent der Betriebe in der EU und Mittel-Ost-Europa und 53 Prozent der Betriebe in Österreich gaben an, diese Arbeitsweise zu nutzen, wobei Outsourcing wesentlich häufiger vorkommt als die Beschäftigung eigener Angestellter an anderen Standorten oder zu Hause.Interessant ist, dass die verlagerten Tätigkeiten mehrheitlich in der selben Region verbleiben und gar nur in etwa 5 Prozent der Fälle in andere Länder verlagert werden. Die Verlagerung aus Europa hinaus kommt darunter nur verschwindend selten vor. Die häufig kolportierten Beispiele der Auslagerung von Arbeit nach Indien sind daher als Einzelfälle anzusehen. Vor allem Software-Entwicklung und IT-Support. Nach den Ergebnissen dieser Befragung unter mehr als 7.000 Betrieben in Europa konzentriert sich ¿e-work¿ zudem auf einzelne Unternehmensfunktionen. So lassen fast 60 Prozent der Betriebe Software-Entwicklung oder andere IT-Aufgaben auch außer Haus durchführen, zudem werden häufig kreative Entwurfs- und Gestaltungstätigkeiten ausgelagert. Andere Funktionen, wie Buchhaltung, Verkauf oder Datenerfassung, nehmen nur in einer kleinen Minderheit der Betriebe die Form von ¿e-work¿ an.
->   Das EMERGENCE-Projekt
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Grenzen der Verlagerung
Derzeit werden im EMERGENCE-Projekt in ganz Europa, in Indien, Australien und Nordamerika Fallstudien durchgeführt, um die Motive und Grenzen der Verlagerung von Arbeit auf der Grundlage von Informationstechnologien im Detail zu erfassen. Aus früheren Untersuchungen ist bekannt, dass eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein muss, soll die neue räumliche Verteilung von Arbeit gelingen.

Grenzen der Ortsunabhängigkeit bestehen insbesondere dadurch, dass Lernprozesse, Kooperation und Zugang zu Wissen trotz aller technischer Unterstützung sehr häufig räumliche Nähe erfordern. Der hohe Aufwand, die Abläufe neu zu organisieren, die Nachteile unterschiedlicher Zeitzonen, aber auch Kosten der technischen Vernetzung sind als weitere Grenzen zu erkennen.
Die Rolle der Technologie
Insgesamt zeigen die Erfahrungen, dass die neuen technischen Möglichkeiten es ganz erheblich erleichtern, eine räumliche Neuverteilung von Arbeit zu realisieren. Neue Organisationsformen werden aber nicht aufgrund der verfügbaren Technik, sondern aus anderen, mehrheitlich ökonomischen Gründen gewählt.

Prognosen, wie jene zur Verbreitung von Teleheimarbeit, bei denen von den technischen Möglichkeiten auf die tatsächliche Inanspruchnahme geschlossen wurde, erwiesen sich als wenig treffsicher.

Und auch heute muss - entgegen den modischen Thesen - so manches ¿virtuelle¿ Team auf den Boden der Realität, sprich: an einen gemeinsamen Ort, geholt werden, soll die Kooperation wie gewünscht gelingen. Bis auf einige Ausnahmen bleibt die völlige Ortsunabhängigkeit der Arbeit also ein Mythos.
 
 
 
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