Jörg Flecker
FORBA -Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt
 
ORF ON Science :  Jörg Flecker :  Gesellschaft 
 
Zeit für neue Zeiten?  
  Neue Konzepte der Gestaltung von Arbeits- und Lebenszeit sollen Koordinationsprobleme im Alltag mildern.  
Wo bleibt der Zeitwohlstand?
Veränderungen in der Arbeitswelt und in den privaten Beziehungen haben dazu geführt, daß der "Zeitwohlstand" im letzten Jahrzehnt eher gesunken als gestiegen ist. Für die einen behindern überlange Arbeitszeiten die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben, für die anderen wird die mangelnde Planbarkeit der Arbeitszeit und die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie zu einem immer größeren Problem.
Zeitmangel betrifft vor allem Frauen
Durch die Verbindung aus gestiegener Erwerbsbeteiligung und weiterer Zuständigkeit für Familienarbeit sind es in erster Linie Frauen, die von Zeitarmut betroffen sind.

Durch die im internationalen Vergleich große Zahl an Überstunden liegt Österreich in der EU bei den tatsächlich geleisteten Arbeitszeiten im Spitzenfeld. Zudem ist die "Flexibilisierung" vorangeschritten: Viele Unternehmen haben ihre Betriebs- bzw. Öffnungszeiten ausgedehnt und passen den Personaleinsatz an den Kundenandrang bzw. die Auslastung des Betriebes an.
Zeitmanagement des Einzelnen ist gefragt
Diesen Entwicklungen stehen geänderte Familienstrukturen und Beziehungsmuster im Privatleben, Anforderungen an Weiterbildung und Freizeitaktivitäten gegenüber, die ebenfalls gestiegene Anforderungen an die Zeitverwendung mit sich bringen.

Der Koordinationsaufwand für die einzelnen steigt, gesellschaftliche "Zeitinstitutionen", wie der Feierabend oder das Wochenende, verlieren an Bedeutung. Kein Wunder, daß Spannungen entstehen und Arbeitszeitwünsche vielfältiger werden.
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Laut Arbeitskräfteerhebung der Statistik Austria weichen die Arbeitszeitwünsche vieler Beschäftigter deutlich von ihren tatsächlichen Arbeitszeiten ab. Von jenen Personen, die über 40 Stunden pro Woche arbeiten, wünscht sich nicht weniger als ein Viertel eine Arbeitszeit zwischen 25 und 35 Stunden, ein weiteres Viertel will zwischen 36 und 40 Stunden arbeiten. Andererseits gibt es viele Teilzeitbeschäftigte, aber auch Vollzeitbeschäftigte, die länger arbeiten wollen, als sie derzeit beschäftigt sind. (Statistische Nachrichten 1/2001)
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Politik für Arbeiten und Leben- ein internationaler Vergleich
Auf die im Alltag spürbaren Spannungen wird in mehreren europäischen Ländern inzwischen mit Mitteln der Arbeitszeitpolitik reagiert. Die wichtigsten Trends dabei sind: Gestaltung der Lebensarbeitszeit und individuelle Wahlmöglichkeiten bei der Wochenarbeitszeit. In Belgien und Dänemark beispielsweise wurden die Möglichkeiten zur Berufsunterbrechung ausgebaut.

So können sich die Däninnen und Dänen bis zu einem Jahr zum Zweck der Weiterbildung freistellen lassen und erhalten in der Zeit ein Einkommen in der vollen Höhe des (vergleichsweise großzügigen) Arbeitslosengelds.

In den Niederlanden wurden vor kurzem die Wahlmöglichkeiten der Beschäftigten ausgebaut: Es besteht nicht nur ein Rechtsanspruch auf Umstieg in Teilzeit, sondern auch das Recht der Rückkehr in eine Vollzeitbeschäftigung. Damit soll es den Erwerbstätigen erleichtert werden, ihre Arbeitszeit an sich verändernde Lebenssituationen anzupassen.

In Frankreich wurde im Jahr 2000 die 35-Stunden-Woche als gesetzliche Arbeitszeit eingeführt. Auch dabei war es ein Ziel, die Lebensbedingungen insgesamt zu verbessern. Laut Umfragen schätzt die Mehrheit der Betroffenen die Wirkung der Arbeitszeitverkürzung in dieser Hinsicht tatsächlich als positiv ein.
->   Information zur Einführung der 35-Stunden-Woche in Frankreich unter:
Reflexion gesellschaftlicher Zeitmuster
Doch der Koordinationsaufwand wird nicht zur Gänze den einzelnen überlassen. Vor allem in Italien, Frankreich und Deutschland wurde die Verantwortung der Gemeinden erkannt, die Zeitmuster in ihrem Bereich aktiv zu gestalten.

Ausgehend von den Projekten der "Stadtzeiten" in Italien wird dabei versucht, die Arbeitszeiten in den Unternehmen, die Öffnungszeiten der Kindergärten, Schulen und Ämter, die Betriebszeiten der Verkehrsmittel etc. in einer Weise aufeinander abzustimmen, die insbesondere den Frauen mit Kindern die Bewältigung des Alltags erleichtert. Zu diesem Zweck verhandeln VertreterInnen der betroffenen Einrichtungen oder gesellschaftlichen Gruppen an einem "runden Tisch" über eine besser abgestimmte Zeitordnung.
Wenn es auch kein Patentrezept zur Lösung der überaus komplexen Zeitprobleme gegenwärtiger Gesellschaften gibt, deuten die unterschiedlichsten Ansätze in den europäischen Ländern doch darauf hin, daß die Zeit für eine neue Zeitpolitik gekommen ist.
->   Europa
->   Deutschland
 
 
 
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