Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Spiritualität in der Medizin, Teil 2  
  Das Recht auf seelsorgerliche oder spirituelle Begleitung gehört zu den gesetzlich verankerten Patientenrechten. Mit der Sehnsucht nach Spiritualität verbindet sich manchmal freilich auch eine unbestimmte Heilserwartung, eine Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit, die das gängige Medizinkonzept in Frage stellt. Was ist davon zu halten?  
Mehre Dimensionen gefragt
Ein materialistischer Reduktionismus, der die Sinnfrage und die Dimension der Transzendenz ausblendet, ist ebenso problematisch wie manche Konzeptionen der Ganzheitlichkeit, die sämtliche Krankheiten auf psychische oder spirituelle Ursachen zurückführen wollen. Eine Spiritualität, die positives Denken als Wunderwaffe gegen alle somatischen Erkrankungen propagiert, verkennt den Unterschied zwischen Heil und Heilung und ist nicht weniger reduktionistisch als der neuzeitliche Materialismus.

Erkenntnis¬theoretisch wie praktisch muss um des Lebens willen die Eindimensionalität zugunsten der Mehrdimensionalität überwunden werden. Anstelle eine fragwürdigen Ganzheitsmedizin ist aber nach meinem Dafürhalten ein Konzept von integrativer Medizin zu stellen, das auf Mehrdimensionalität zielt.
...
Teamwork gefragt
Praktisch bedeutet dies, dass nicht nur somatische Medizin und Psychotherapie, sondern dass auch Medizin, Philosophie und Theologie noch stärker als zur Zeit miteinander ins Gespräch kommen müssen. Das gilt nicht nur auf dem Gebiet einer im Wesentlichen auf Risikoabschätzung reduzierten medizinischen Ethik, sondern auch im Bereich anthropologischer Grundfragen. An die Stelle hochgradiger Arbeitsteilung muss das Teamwork von Gesundheitsberufen und religiöser Seelsorge treten, wenn der Mensch als Person nicht aus dem Blickfeld geraten soll.
...
Unteilbarer Mensch
Die Rechnung, wonach Heil und Heilung säuberlich zu trennen sind, so dass ausschließlich die Medizin für Gesundheit und Heilung, die Theologie allenfalls für Heil und Erlösung zuständig ist, geht in der bisherigen, gewissermaßen kantischen Form nicht auf.

Gesundheit und Heil, Heilung und Erlösung, Sein und Sinn betreffen den in sich unteilbaren Menschen, der mehr ist als die Summe seiner anatomischen, psychischen und mentalen Teile.
Sechs Thesen zur Spiritualität in der Medizin
In welchem Sinne lässt sich aus christlich-theologischer Sicht verantwortlich von Spiritualität in der Medizin sprechen? Ich möchte einige Elemente benennen:
1. "Professional Attitudes"
Das Wort Spiritualität kommt vom lateinischen "spiritus = Geist". Gemeint ist der göttliche Geist, der auch im Menschen Platz greifen will und soll. Zur Spiritualität gehört die Frage, aus welchem Geist heraus ich meine Arbeit tue, meinen Beruf ausübe und anderen Menschen begegne.

Neudeutsch gesprochen hat Spiritualität etwas mit den "professional attitudes" von Ärzten und Pflegenden zu tun. Empathie, Nächstenliebe, Fürsorglichkeit und Barmherzigkeit sind Geistesgaben, die nach meinem Verständnis die Grundhaltung von Medizinern und Pflegenden prägen sollten.
2. Endlichkeit akzeptieren
Spiritualität weiß um den Geschenkcharakter von Leben und Gesundheit, um ihre Unverfügbarkeit und Kontingenz. Bei aller Professionalität ist doch das Gelingen therapeutischer Prozesse eine Gnade und Grund zu Demut und Dankbarkeit. Ein alter Spruch lautet: "Medicus curat, natura sanat, Deus salvat".

Heilung liegt nicht allein in Menschenhand. Spiritualität in der Medizin bedeutet, die eigene Endlichkeit, d.h. aber auch die Endlichkeit der Heilkunst zu akzeptieren und die Heilkunst nicht zur Heilslehre zu überhöhen. Spiritualität besteht darin, dass sich Ärzte und Patienten wechselseitig von übertriebenen Erwartungen entlasten und auch lernen, mit dem Scheitern und mit Misserfolgen umzugehen. Besonders virulent ist diese Frage im Fall von unheilbarer oder chronischer Krankheit.
3. Medizin als "Kunst"
Zur Spiritualität gehört die Einsicht, dass Medizin und Pflege nicht nur eine Technik, sondern auch eine Kunst sind, die wie alle Kunst auch der Inspiration und des "Kairos", des rechten Augenblicks und der Fügungen bedarf.

"Häufig gilt unausgesprochen die Überzeugung, Ärzte oder Pflegende würden Probleme einfach sachgerecht, das heißt fachlich lösen. Wäre dies tatsächlich der Fall, dann hätten wir es bei den Ärzten mit Medizintechnikern zu tun, die den Namen Arzt nicht verdienen würden, und bei den Pflegenden mit Pflegerobotern, die den Namen Schwester oder Pfleger nicht verdienen würden" (Kath. Krankenhausverband Deutschlands e.V. / Deutscher Evangelischer Krankenhausverband e.V.).
4. Vertrauen ist akzeptierte Abhängigkeit
Spiritualität in Medizin und Pflege hat ganz wesentlich mit der Ressource Vertrauen zu tun, ohne die therapeutische und pflegerische Prozesse nicht gelingen können. Ärzte und Pflegende benötigen Selbstvertrauen und Vertrauen in ihre Fähigkeiten und die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel. Patienten und ihre Angehörigen brauchen Vertrauen in die Heil- und die Pflegekunst der Ärzte und Pflegekräfte.

Vertrauen ist akzeptierte Abhängigkeit, wie der Mediziner und evangelische Theologe Dietrich Rössler einmal geschrieben hat. Darin liegt ein Hinweis auf das Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit, das der große protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher als Wesen der Religion beschrieben hat. Vertrauen ist, wenn man so will immer auch eine Glaubenssache. Glaube nicht nur an die Kompetenz eines Arztes, sondern der Glaube an Gott als Tiefendimension unseres Daseins ist der letzte Grund für alles Vertrauen.

Zur Spiritualität gehört es, diese Tiefendimension menschlichen Vertrauens und Hoffens freizulegen, nach Quellen des Vertrauens zu suchen. Zur Spiritualität gehört ebenso, sich den vielfältigen Ängsten, den eigenen wie den fremden zu stellen, statt die Angst, die Lebensangst, die doch immer auch Todesangst ist, zu tabuisieren, wie dies in unserer Gesellschaft und im medizinischen Alltag häufig geschieht.
5. Kommunikation
Spiritualität bedeutet Kommunikation, Kommunikation zwischen Mensch und Gott und zwischen den Menschen untereinander. Der Geist stiftet und eröffnet Kommunikation. Er ist die Atmosphäre, in der die Kommunikation zwischen Arzt und Patient stattfindet. Sein Wirken ereignet sich zwischen Arzt und Patient. Der Geist ist das Zwischen menschlicher Kommunikation, das Ich und Du ebenso verbindet wie voneinander abgrenzt und unterscheidet.
6. Spiritualität als organisationstheoretisches Thema
Spiritualität hat nicht nur mit der Haltung und Einstellung des Einzelnen, des Patienten, des Arztes oder der Pflegenden zu tun, sondern auch mit der Kultur einer medizinischen oder pflegerischen Einrichtung. Wir sprechen gelegentlich von dem Geist, der in einem Haus herrscht. Spiritualität ist somit auch ein organisationstheoretisches Thema. Strukturen, ja schon die Architektur eines Hauses sind gewissermaßen Objektivationen des Geistes.

Sie vermitteln eine bestimmte Atmosphäre, ermöglichen, fördern oder verhindern Kommunikationsprozesse. Zur Dimension der Spiritualität gehört eben auch die Frage nach den Strukturen, den Arbeits- und Lebensbedingungen in einer Klinik oder einem Pflegeheim. Und schließlich zählt dazu auch die handfeste Frage, welche Budgets es für Angebote der Seelsorge sowie der entsprechenden Fort- und Weiterbildung zur Verfügung stehen.

[14.11.07]
->   Alle Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
->   Spiritualität in der Medizin, 1. Teil
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   Massenphänomen Wallfahrt: Wunsch nach Spiritualität (19.5.04)
->   Religion und Gesundheit (29.3.02)
 
 
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick