Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Leben .  Gesellschaft 
 
Albert Schweitzer heute
Die Nachlassedition im Verlag C.H.Beck vermittelt neue Einblicke in das Denken des großen Theologen und Philosophen.
 
  Die Faszination, die von Albert Schweitzer ausgeht, ist bis heute ungebrochen. Die Weitsicht seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, welche die Anthropozentrik der abendländischen Philosophie, aber auch maßgeblicher Traditionsstränge des Christentums, überwinden will, geht vielen erst heute auf, wo Fragen des Umweltschutzes, der Bewahrung der Schöpfung und einer nachhaltigen Entwicklung sowie einer Tierethik drängen.  
Eine große Gestalt des 20. Jahrhunderts

Albert Schweitzer
Schweitzer, geboren am 14. Januar 1875 in Kaysersberg im Oberelsass und gestorben am 4. September 1965 in Lambarene, war nicht nur ein herausragender Theologe, ein wichtiger Vertreter der sogenannten liberalen Theologie, sondern auch Mediziner, der die von ihm vertretene christliche und humanistische Gesinnung, wie er sie verstand, lebte.

Vielen ist er als Urwalddoktor von Lambarene im heutigen Gabun in Erinnerung, der auf eine aussichtsreiche Universitätskarriere verzichtete, um in der "Dritten Welt" ein Spital zu gründen und praktische Entwicklungshilfe zu leisten. Schweitzer war aber auch Musiker und Bach-Interpret, der sich außerdem um die Orgelbewegung und die Restauration historischer Orgeln verdient gemacht hat.
Theologe und Philosoph
Jenseits der akademischen Schulphilosophie und die Grenzen zwischen Theologie und Philosophie hinter sich lassend, verstand sich Schweitzer als "Denker", als Erneuerer einer auf Ethik aufbauenden Kultur, die das christliche Erbe mit dem Erbe der europäischen Aufklärung zu verbinden suchte. Seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben formulierte er als Antwort auf die Kulturkatastrophe des 1. Weltkriegs und den darin nach seiner Ansicht manifest werdenden Nihilismus, der in dem Philosophen Friedrich Nietzsche seinen herausragenden Vertreter fand.
Kultur und Ethik
Erste Ideen und Vorarbeiten zu Schweitzers zweiteiliger Kulturphilosophie, die 1923 unter dem Titel "Kultur und Ethik" erschien, reichen aber bis in das Jahr 1900 zurück, als Schweitzer den Sommer an der Universität Berlin verbrachte.
Ehrfurcht vor dem Leben
Seine Kulturphilosophie und die in ihr enthaltene Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben bildet zweifellos das Herzstück von Schweitzers literarischem Werk. Schweitzer stellte das Postulat einer Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, menschlichem wie tierischem und pflanzlichem schon zu einer Zeit auf, als noch nicht einmal die Grundlagen der modernen Genetik erforscht waren. Er - wie Jahrzehnte später auch der Philosoph Hans Jonas - hat den Lebensbegriff in einem sehr umfassenden Sinne gebraucht, also nicht nur auf das Einzelleben, sondern auf die gesamte Biosphäre bezogen.
Synthetisches Denken
Schweitzers Ethik versteht sich als durch den Nihilismus geläuterter Rationalismus, als Rationalismus höherer Ordnung. Dieser Rationalismus glaubt in einer Synthese den Dualismus von Erkennen und Wollen, von Erkenntnistheorie und Ethik, auch von Philosophie und Religion bzw. Mystik aufgehoben zu haben.
Die Ethik Jesu von Nazareth
Schweitzers Ethik will nicht nur eine Synthese philosophischer und religiöser Ethik schaffen. In seiner Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben sieht Schweitzer vielmehr die einzige Möglichkeit, die Ethik Jesu fortzuführen, deren weltanschauliche Voraussetzung, nämlich die apokalyptische Erwartung des hereinbrechenden Gottesreiches unerschwinglich geworden ist.
Einzig aus der Ehrfurcht vor dem Leben könne die Ethik Jesu, wie sie uns in der Bergpredigt entgegentritt, neu geboren werden. Andernfalls verliere sie ihre Plausibilität. Das ist eine wahrlich radikale und undogmatische These!
Nachgelassene Werke
Neue Facetten des Denkens Schweitzers fördert die umfangreiche Edition seiner nachgelassenen Werke zutage, die derzeit im Verlag C.H. Beck erscheint. Dazu gehört unter anderem die zweiteilige Fortsetzung der Kulturphilosophie Schweitzers, nämlich seine "Kulturphilosophie III".
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Albert Schweitzers Werke aus dem Nachlass im Verlag C.H.Beck
Bereits erschienen:

Reich Gottes und Christentum, hg. v. Ulrich Luz, Ulrich Neuenschwander (+) u. Johann Zürcher, München 1995

Straßburger Vorlesungen, hg. v. Erich Gräßer u. Johann Zürcher, München 1998

Predigten 1898-1948, hg. v. Richard Brüllmann u. Erich Gräßer, München 2001

Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III, hg. v. Claus Günzler u. Johann Zürcher, Erster und zweiter Teil, München 1999; Dritter und vierter Teil, München 2000

In Vorbereitung:

Geschichte des chinesischen Denkens, hg. v. Bernard Kaempf u. Johann Zürcher

Vorträge und Aufsätze, hg. v. Claus Günzler, Ulrich Luz u. Johann Zürcher

Wir Epigonen, hg. v. Ulrich Körtner u. Johann Zürcher
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Kultur und Ethik in den Weltreligionen

Soeben ist ein weiterer Band mit dem Titel "Kultur und Ethik in den Weltreligionen" erschienen, der drei nachgelassene Schriften enthält, darunter einen bemerkenswerten tierethischen Text zu "Mensch und Kreatur in den Weltreligionen". Diese religionsphilosophischen Arbeiten gehören in das Umfeld der Kulturphilosophie Schweitzers und bieten unter anderem eine knappe Darstellung von Schweitzers Sicht des Christentums im Vergleich mit den anderen Weltreligionen.
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Neuerscheinung
Albert Schweitzer, Kultur und Ethik in den Weltreligionen, hg. von Ulrich Körtner u. Johann Zürcher, Verlag C.H.Beck, München 2001
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Schweitzer revisited
Die jetzt neu zugänglichen Arbeiten Schweitzers sind von z.T. überraschender Aktualität. Sie zeigen auch, dass es Schweitzer verdient, nicht nur als Theologe, sondern auch als Philosoph ernster genommen zu werden als es in den vergangenen Jahrzehnten oft der Fall war. Dabei lag Schweitzer an keinem Teil seines Werkes so viel wie an seinem Beitrag zur Philosophie.
Albert Schweitzer als Philosoph
Anhand der nun vorliegenden "Kulturphilosophie III", an der Schweitzer neben vielem anderen in den Jahren von 1931 bis 1945 gearbeitet hat, lassen sich die Linien seines Denkens über die früheren Schriften hinaus verfolgen. Deutlich wird, wie Schweitzer sich darum bemüht hat, seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben zu einer Wertphilosophie auszubauen.
Mit dem Erscheinen seiner nachgelassenen Werke wird endgültig klar, dass Schweitzer zu den bedeutenden Philosophen des 20. Jahrhunderts gehört.
Begründungsprobleme der Ethik
Die Begründung für Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist - von Fragen, die sein Jesusbild aufwirft, einmal abgesehen - , allerdings keineswegs so zwingend, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Die von philosophischer Seite schon früher geäußerte Kritik wird auch durch die jetzt neu edierten Texte Schweitzers nicht völlig entkräftet. Vielleicht liegt dies daran, dass seine Ethik stärker von religiösen bzw. theologischen Prämissen lebt, als selbst seine theologischen Kritiker erkannt haben.
Eine Ethik des Lebens, welche unter Verweis auf dessen Gegebensein moralische Normen begründen will, gerät daher notwendigerweise in Aporien. Schweitzer war sich dieser Pro-blematik freilich bewusst. Seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist gerade als Gegenentwurf zu einem biologistischen Materialismus gedacht.
Absage an den Biologismus
Insofern bleibt die Ethik Schweitzers hoch aktuell. Denn die sogenannten "Lebenswissenschaften" (Life Sciences) unserer Tage, d.h. der biologisch-technologische Komplex der Gentechnik, führt zur Heraufkunft eines neuen Monismus, einer Genmystik, die für alles und jedes die Gene verantwortlich macht und den Anschein erweckt, dass mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms auch schon die Frage nach dem Lebenssinn beantwortet sei.
Humanität und Humanismus
Die humanistische Idee der Bildung und Selbstbildung des Menschen droht durch Programme der Menschenzüchtung verdrängt zu werden. Der Philosoph Peter Sloterdijk z.B. redet einem neuen, durch "Anthropotechnologien" beförderten "Überhumanismus" das Wort, der sich unter anderem auf Friedrich Nietzsche beruft. Ob zu Recht, sei dahingestellt. Die durch Sloterdijk ausgelöste Debatte zeigt jedenfalls, dass die Herausforderung durch den neuzeitlichen Nihilismus ungebrochen ist.
Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben kann uns vor neuen Formen der Inhumanität bewahren. Gerade weil sie die Ethik aus der Verengung anthropozentrischen Denkens herausführt, ist sie der Ausdruck wahrer Humanität.
 
 
 
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