Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft 
 
Religion und Gewalt
Zeit zur Besinnung
 
  Die barbarischen Angriffe auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington haben der Weltöffentlichkeit eine globale Gefahr vor Augen geführt: den religiös motivierten Terrorismus. Nichts wäre jedoch verkehrter und verhängnisvoller, als diese Verbrechen pauschal dem Islam anzulasten.  
Kein Kampf der Kulturen
Die Terroranschläge in den USA waren offenbar nicht nur politisch, sondern auch religiös motiviert. Es wäre jedoch verkehrt, in ihnen den Auftakt zum Kampf der Kulturen, den der Politikwissenschaftler Samuel Huntington prophezeit hat, oder gar zu einem Krieg der Religionen zu sehen. Derartige Thesen gehen nicht nur an den komplexen politischen Realitäten vorbei, sondern verraten auch wenig Kenntnisse über die Weltreligionen in Geschichte und Gegenwart.
Verbrechen gegen die Menschheit
Die Massaker in New York und in Washington sind Verbrechen gegen die Menschheit, nicht etwa nur gegen die Menschlichkeit. Nichts wäre jedoch verkehrter und politisch verhängnisvoller, als diese Verbrechen dem Islam anzulasten und möglicherweise zum Gegenangriff eines "wehrhaften Christentums", von dem auch hierzulande manche schwadronieren, aufzurufen.
"Wahrer Islam"...
Eine wohlmeinende Apologie des "wahren Islam" reicht freilich auch nicht zur Erklärung. Die Realität eines militanten Islam läßt sich einfach nicht bestreiten. Gezielte Versuche, den Islam als "Praxis des Friedens" zu propagieren, werden durch eine fundamentalistische Auffassung vom "gihad" und die Revitalisierung vormoderner islamischer Wertvorstellungen kontrastiert.
... und "wahres Christentum"
Grausam, aber wahr: auch das ist Religion - genauso wie die Kreuzzüge des Mittelalters oder die Inquisition, die Judenverfolgungen und die Religionskriege der Reformationszeit. Dass auch die Geschichte des Christentums über weiter Strecken ein "Mischmasch aus Irrtum und Gewalt" (Goethe) war, sollte gerade jetzt nicht in Vergessenheit geraten. Auch das "wahre Christentum" ist nicht immer mit seinen empirischen Erscheinungsweisen identisch. Und auch hier gibt es militanten Fundamentalismus.
Die Zweideutigkeit aller Religion
Alle Menschen, gleich welcher Religion sie angehören, tun gut daran, sich mit der Zweideutigkeit aller Religion selbstkritisch auseinanderzusetzen. Religion kann segensreich wirken, aber auch zur Quelle von Fanatismus und Verderben werden. Religionen sind eben keineswegs in jedem Fall der Schlüssel zum Weltfrieden oder die Basis für ein Weltethos. Auch das gehört zu den Lehren dieser Tage.
Theologisch gesprochen steht jede Religion in der Gefahr, Gott oder das Heilige dämonisch zu verzerren. Die schrecklichen Ereignisse in den USA zeigen, wie vermessen, ja verbrecherisch es sein kann, wenn Menschen sich anmaßen, im Namen Gottes zu sprechen oder zu handeln.
Die Gefahr der Dämonisierung
Groß ist die Versuchung für eine Religion, die übrigen Religionen zu dämonisieren und sie zu bekämpfen, statt den Dialog zu suchen. In Anbetracht der vielen Toten, welche die Terrorakte der letzten Tage gefordert haben, und angesichts des unsäglichen Leidens, das über ihre Familien und Freunde hereingebrochen ist, haben die Religionsgemeinschaften allen Grund, zur Besinnung, zur Mäßigung und auch zur Demut aufzurufen.
Die Aufgabe von Theologie und Religionswissenschaft
Auch die Theologie und die Religionswissenschaft sind gefordert, ihren Beitrag zur Deeskalation und zur Überwindung von Vorurteilen zu leisten, durch welche das friedliche Zusammenleben in der multikulturellen und multireligösen globalisierte Welt von heute gefährdet ist.
Neben soliden Informationen über die verschiedenen Religionen ist aber auch der kritische Umgang mit dem Phänomen der Religion und ihren Ambivalenzen vonnöten. Die Tradition der europäischen Aufklärung spielt dabei eine wichtige Rolle.
Projekt Weltethos?
Zu Recht warnt der katholische Theologe Hans Küng vor einer Dämonisierung des Islam. Allerdings steht nun sein eigenes Projekt Weltethos angesichts eines religiös motivierten Terrorismus auf dem Prüfstand. Religionen sind eben keineswegs in jedem Fall der Schlüssel zum Weltfrieden oder die Basis für ein Weltethos. Auch das gehört zu den traurigen Lehren dieser Tage.
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"Kein Weltfriede ohne Religionsfriede"
Küng vertritt die Ansicht, daß ein Ethos für die Gesamtmenschheit ohne religiöse Fundierung nicht möglich sei. Seine grundlegende These lautet: "Kein Überleben ohne Weltethos. Kein Weltfriede ohne Religionsfriede. Kein Religionsfriede ohne Religionsdialog."
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Religionspolitik und Rechtsstaat
So beachtlich die Bemühungen der Religionen heute auch sein mögen, ihren Beitrag zur Förderung des Friedens zu leisten, so wenig darf doch übersehen werden, daß die Religionen in Geschichte und Gegenwart keineswegs nur die Initiatoren, sondern immer auch der Anlaß für Befriedungsprozesse gewesen sind.
Zweifellos können die Religionsgemeinschaften einiges zur Versöhnung der Völker beitragen. Andererseits aber ist der Friede zwischen den konkurrierenden Religionen immer auch ein wichtiges Ziel politischer Bemühungen und rechtsstaatlicher Gesetzgebung, so daß sich die These Küngs auch umkehren läßt: "Kein Religionsfriede ohne politischen Frieden!"
Ethischer Realismus
Hieraus ist nicht die Nutzlosigkeit transkultureller und interreligiöser Verständigungsbemühungen abzuleiten. Aber die Rolle der Ethik ebenso wie diejenige der Religionen im Bereich von Politik und Ökonomie, auch auf dem Gebiet der Friedenssicherung, muß realistischer bewertet werden, als es in der Diskussion um Konzepte eines Weltethos zumeist geschieht.
 
 
 
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