Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben 
 
Starre Fronten überwinden
Evangelische Ethiker beziehen Stellung zur Embryonenforschung
 
  Die Diskussion in Deutschland um den Import embryonaler Stammzellen nähert sich ihrem Höhepunkt. Am 30. Jänner wird der Bundestag entscheiden, eine Tag später die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Die Kirchen machen Druck, um den Import zu verhindern. Nun schalten sich namhafte evangelische Ethiker mit einer gemeinsamen Erklärung ein.  
Ökumenisches Nein - Brief der Kirchen an die Bundestagsabgeordneten
Zwei Wochen vor der am 30. Januar anstehenden Entscheidung des Deutschen Bundestages über den Import embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken haben die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Deutsche Bischofskonferenz die Abgeordneten um ein klares "Votum für die Würde und den Schutz des Menschen von Anfang an" gebeten.
"Lebensrecht und uneingeschränkter Lebensschutz"
In ihrem Brief vom 14. Jänner betonen der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, und der Vorsitzende des Rates der EKD, Präses Manfred Kock, dem künstlich erzeugten Embryo komme "Lebensrecht und uneingeschränkter Lebensschutz vom Zeitpunkt der Befruchtung an" zu.

Ein Ansetzen des Lebensbeginns zu einem späteren Zeitpunkt oder ein lediglich abgestufter Lebensschutz für den frühen Embryo steht - so die beiden Vorsitzenden - unter ethischen Gesichtspunkten "auf schwankendem Boden".
"Vernichtung embryonaler Menschen" ist inakzeptabel
Den Befürwortern eines Stammzellenimportes halten Lehmann und Kock entgegen, dass an sich wünschenswerte Therapie- oder Heilungsmöglichkeiten nicht losgelöst von den Methoden gesehen werden dürfen, mit denen man sie entwickelt.

Forschungsmethoden, die eine "Vernichtung embryonaler Menschen" beinhalten, bezeichnen EKD und Bischofskonferenz als "inakzeptabel". Sie setzen ganz auf die verstärkte Forschung an adulten Stammzellen.
->   Kirchen schreiben an Bundestagsabgeordnete
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Bioethikkongreß der EKD
Nur wenige Tage vor der Bundestagsentscheidung veranstaltet die EKD in Berlin einen Bioethikkongreß. Auf ihm sollen die unterschiedlichen Standpunkte noch einmal diskutiert werden.

Anders als in der römisch-katholischen Kirche werden in der Evangelischen Kirche in der Frage der Embryonenforschung durchaus abweichende Positionen vertreten.

In der Einladung zum Bioethikkomngreß der EKD heißt es dazu: "Bioethik in evangelischer Perspektive geht von einer bestimmten Sicht des Menschen aus: Er ist 'zum Bild Gottes geschaffen', wie es im 1. Buch Mose heißt. Dies verleiht ihm eine einmalige Würde und überträgt ihm Verantwortung in der Schöpfung, die auch gestalterisches Handeln einschließt. Zugleich aber ist der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf zu respektieren. Was trägt dieses christliche Menschenbild für den Umgang mit Embryonen aus? Darüber gibt es unter evangelischen Christen und in der evangelischen Theologie kontroverse Standpunkte."
->   Programm des Bioethikkongresses der EKD vom 28.-29. Jänner 2002
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Die Haltung der Evangelischen Kirche in Österreich
Eine von der Linie der EKD abweichende Position zur Embryonenforschung nimmt z.B. die Evangelische Kirche in Österreich ein. Ihre Denkschrift "Verantwortung für das Leben", die international große Beachtung findet, hält zumindest die Beforschung embryonaler Stammzellen unter bestimmten Voraussetzungen für ethisch zulässig und auch für christlich vertretbar.
Der Text der Denkschrift im Wortlaut
Die bioethische Denkschrift der Evangelischen Kirche ist als pdf-Datei im Internet abrufbar.
->   Verantwortung für das Leben. Eine Denkschrift zu Fragen der Biomedizin
Evangelische Ethiker schalten sich in Debatte ein
Nachdem die Kirchenleitungen in Deutschland den moralischen Druck auf die politischen Verantwortlichen verstärkt haben, melden sich nun auch namhafte evangelische Theologen gemeinsam zu Wort.

"Starre Fronten überwinden" lautet der Titel ihrer am 23. Jänner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Stellungnahme, in der sie sich von der bisherigen starren Haltung der Kirchen abgrenzen und für einen politischen Kompromiß eintreten.
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Die Autoren
Prof. Dr. Reiner Anselm, Universität Göttingen
Prof. Dr. Johannes Fischer, Universität Zürich
Prof. Dr. Christofer Frey, Universität Bochum
Prof. Dr. Ulrich Körtner, Universität Wien
Prof. Dr. Hartmut Kreß, Universität Bonn
Prof. Dr. Dr. h.c. Trutz Rendtorff, Universität München
Prof. Dr. Dr. Dietrich Rössler, Universität Tübingen
Prof. Dr. Christian Schwarke, Universität Dresden
Prof. Dr. Klaus Tanner, Universität Halle-Wittenberg
->   Die Stellungnahme im Wortlaut (Langfassung)
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Enbryonenschutz und Forschungsfreiheit - drei Grundpositionen
In der Debatte zur Embryonenforschung lassen sich drei Grundpositionen unterscheiden. Eine erste fordert den unbedingten Schutz des Embryos und begründet dies mit der Potentialität der befruchteten Zelle, sich zu einem Menschen zu entwickeln, bzw. mit der biologischen Kontinuität zwischen der befruchteten Eizelle und dem potentiellen späteren Individuum.
Zweite Position: Abgestufter Embryonenschutz
Demgegenüber vertritt eine zweite Position einen abgestuften Embryonenschutz, der enge Grenzen zieht. Auch hier gilt der grundsätzliche Schutz des Embryos von Beginn an. Ein strikter Schutz wird jedoch erst vom Zeitpunkt der Niadation an gefordert.

Diese Position hält es u.a. in bestimmten Grenzen für gerechtfertigt, "überzählige" Embryonen, die bei der In-Vitro-Fertilisation anfallen, für die Entwicklung von Therapien für kranke Menschen zu verwenden.
Dritte Position: Uneingeschränkte Forschung
Eine dritte Position schließlich plädiert für die uneingeschränkte Forschung an frühen Embryonen, weil sie zwischen Menschen als Personen und solchen Stadien des vorgeburtlichen menschlichen Lebens unterscheidet, in denen diesem kein unbedingter Schutz zukommt.
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Erkenntnis und Interesse
Zum Streit zwischen den genannten Positionen merken die Autoren an, dass zwischen Erkenntnis und Interesse ein kompelexes Wechselspiel stattfindet:

"Für alle in der Debatte vertretenen Positionen - innerhalb wie außerhalb der Kirchen - gilt, dass in ihnen über die konkreten Probleme der Embryonenforschung hinaus weiter reichende Fragestellungen, Interessen und Bemühungen um Einflussnahme leitend sind.

Differente Vorstellungen über die Gesellschaftsordnung sind dabei ebenso zu nennen wie die kritische Auseinandersetzung mit der als problematisch empfundenen Verflechtung unterschiedlicher Zielsetzungen. Dies wird ebenso deutlich in der Kritik an den ökonomischen Interessen der Forschung wie am so genannten Dammbruchargument.

In diesem Sinne geht es in dem Streit um den Status des Embryos nicht nur um seinen individuellen Lebensschutz, sondern hintergründig auch um weiterreichende Prinzipienfragen."
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Wann beginnt menschliches Leben?
Vergleicht man die drei Grundpositionen, so wird deutlich, daß in jedem Fall Zusatzannahmen gemacht werden müssen, will man einen bestimmten Zeitpunkt als den Beginn eines Menschenlebens bestimmen.

Das gilt auch für den vermeintlich eindeutigen Zeitpunkt der Kernverschmelzung, weil hier bereits an den Embryo Maßstäbe angelegt werden, die für ausgebildete Individuen Geltung beanspruchen.
Die Frage nach dem Status des Embryos
"Die Frage nach dem Status des Embryos", so die Autoren der Stellungnahme, "wird also dann richtig gestellt, wenn darin nach guten Gründen gesucht wird, das zuvor im ethischen Diskurs Bestimmte empirisch anzubinden.

Die Statusfrage ist ein unumgängliches Element im Geflecht des Problems, aber nicht dessen entscheidende Lösung. Diese Erkenntnis deckt sich mit der Zurückhaltung gegenüber der Normativität des rein Natürlichen, von der die evangelische Ethik in ihrer Geschichte weitgehend geprägt ist."
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Bedingungen für einen möglichen Kompromiss
Nach Ansicht der Autoren haben Vorschläge zur Konfliktlösung folgenden Bedingungen zu genügen:

"(1) Die elementaren moralischen Intuitionen, die sich in den unterschiedlichen Positionen äußern, müssen in ihrem Recht anerkannt werden und weiter in der Diskussion bleiben können.

(2) Das Prinzip der Menschenwürde darf dem konkreten Konflikt nicht nur gegenüber gestellt werden, sondern der Konflikt muß als Diskurs zwischen konkurrierenden Auslegungen der Menschenwürde betrachtet werden.

(3) So wichtig empirische Indikatoren für die Anwendung des Prinzips der Menschenwürde sind, so wenig taugen sie zur Begründung des Intendierten. Der Naturalismus in der gegenwärtigen Debatte ist der evangelischen Ethik fremd.

(4) Auch in einer pluralistischen Gesellschaft müssen bestimmte moralische Mindeststandards und Grundrechte gesichert bleiben. Einzelne, eng gefaßte moralische Standpunkte können aber nicht zur Basis in einer pluralistischen staatlichen Rechtsordnung werden. Rechtsregelungen sind so zu gestalten, daß sie Entscheidungen gemäß unterschiedlicher moralischer Überzeugungen offen halten. Dies ist auch die Konsequenz aus der Auffassung, daß ethische Konflikte in der Rechtsordnung befriedet werden können."
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Eingeschränktes Ja zur Embryonenforschung
Konkret halten es die Autoren für ethisch vertretbar, die Forschung an so genannten überzähligen oder "verwaisten" Embryonen, d.h. an bereits mehrjährig kryokonservierten Embryonen, die wegen ihrer eingeschränkten Entwicklungsfähigkeit aus medizinischen Gründen nicht mehr mit dem Ziel einer Schwangerschaft implantiert werden können, zuzulassen.

Das gilt ebenso für die Forschung an Stammzelllinien, die bereits existieren. Die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken sei jedoch derzeit nicht zu verfolgen.
Freiheit und Grenzen der Forschung
Pauschalen Forschungsverboten wird von den Autoren der Stellungahme jedenfalls eine klare Absage erteilt. Sie sprechen sich für die Mitwirkung am Aufbau einer Kultur aus, die zwar mit dem Missbrauch der Wissenschaft rechnen, aber nicht in der Furcht davor erstarrt.
Bemühen umd Differenzierung und Abwägung
Die Kirchen stehen dagegen in der Gefahr, einer allgemeinen Technikfeindschaft Vorschub zu leisten. Aus Sicht evangelischer Ethik erscheint jedoch nicht das pauschale Forschungsvebot als die angemessen Antwort auf die Herausforderungen der Biomedizin, sondern das Bemühen umd Differenzierung und Abwägung von Handlungsalternativen.
Ethischer Pluralismus
Die Freiheit zum eigenen Standpunkt ist, so die Stellungnahme evangelischer Ethiker, ein Markenzeichen des Protestantismus. "Eindeutigkeit oder gar Einstimmigkeit hat die protestantische Tradition nur selten verlangt, nämlich in Grundfragen des Glaubens, mit denen die Kirche steht und fällt.

Fragen der Lebensform, der Lebensgestaltung und der Ethik gehören dazu in der Regel nicht." Dies sollten auch evangelische Kirchenleitungen bei ihren öffentlichen Stellungnahmen stärker beachten.
Freiheit und Verantwortung
Wie immer man sich entscheiden möchte, Verantwortung hat man in jedem Fall zu übernehmen. Das gilt für diejenigen, welche die Forschung an Embryonen mit dem Ziel der Entwicklung neuer Therapien für kranke Menschen ablehnen ebenso wie für diejenigen, welche diese Forschung befürworten.

Das pauschale Nein-Sagen fällt allerdings leichter als ein differenziertes Ja. Einfache Lösungen aber sind - gerade aus ethischer Sicht - stets verdächtig.
->   Sämtliche Artikel von Ulrich Körtner in science.orf.at
 
 
 
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