Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben 
 
Stammzellforschung: Die Doppelmoral der österreichischen Biopolitik  
  Die EU wird die Forschung an embryonalen Stammzellen fördern. Rat und EU-Parlament haben sich auf einen entsprechenden Kompromiss geeinigt. Österreich wird sich an der Forschungsförderung beteiligen (müssen). Der Widerstand der zuständigen Bundesminister Gehrer und Reichhold ist nicht mehr als ein Scheingefecht. Mit Moral hat das alles kaum zu tun.  
Streitfall 6. Rahmenprogramm
Das 6. Rahmenprogramm der EU zur Forschungsförderung hat in Österreich für einige Diskussionen gesorgt. Für Kontroversen sorgt das Kapitel Stammzellforschung, weil auch die Forschung an embryonalen Stammzellinien einbezogen werden soll.

Vor allem die römisch-katholische Kirche sowie die katholisch-theologischen Fakultäten haben sich öffentlich gegen die embryonale Stammzellforschung gewandt und Österreich aufgefordert, in Brüssel dagegen zu stimmen.

Die zuständige Wissenschaftsministerin Gehrer hat reagiert und beim Forschungsministerrat im Dezember 2001 zu Protokoll gegeben, dass sie die Forschung an embryonalen Stammzellen ablehnt. Unterstützt wird sie vom neuen Infrastruktur- und Forschungsminister Reichhold, der auch für die Forschung an adulten Stammzellen strengere Auflagen fordert.
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Stellungnahme der Bioethikkommission
In der vergangenen Woche hat die Bioethikkommission des Bundeskanzlers ihre lange erwartete Stellungnahme zum 6. Rahmenprogramm abgegeben. Eine Mehrheit von 11 Mitgliedern spricht sich für die Forschung an embryonalen Stammzellen unter strengen ethischen Auflagen aus. Die übrigen 8 Mitglieder erheben dagegen Bedenken und lehnen die Forschungsförderung für embryonale Stammzellen ab.
->   Stellungnahme der Bioethikkommission zur Stammzellforschung
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Entscheidung in Brüssel
Am Mittwoch, dem 15. Mai, hat nun das EU-Parlament einem Kompromiss zugestimmt, durch den ein aufwendigeres Einigungsverfahren zwischen Parlament und EU-Rat überflüssig und die Förderung der embryonalen Stammzellforschung ermöglicht wird - allerdings unter strengen Auflagen, wie sie auch die Mehrheit der österreichischen Bioethikkommission empfiehlt.
Österreichische Lösung
In einer ersten Stellungnahme hat Raoul Kneucker, Sektionschef im Wissenschaftsministerium, in der "Presse" von der "besten aller möglichen Welten" gesprochen: Die EU konnte ihr Programm beschließen, ohne dass Österreich der Stammzellforschung zustimmen musste.

Tatsächlich hat Österreich auf Ebene des EU-Rates in der Schlussphase keine Stellung bezogen. Die rechtzeitige Ausformulierung einer österreichischen Position wurde verabsäumt und von der eigens erbetenen Stellungnahme der Bioethikkommission bislang kein Gebrauch gemacht. Das nennt man österreichische Lösung.
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Die praktischen Konsequenzen
Über ihre praktischen Konsequenzen schweigen sich die verantwortlichen Politiker freilich aus: Nicht nur wird Österreich die embryonale Stammzellforschung mitfinanzieren, sondern österreichische Forscher werden selbst Forschungsprojekte mit embryonalen Stammzellen beantragen oder sich an multinationalen Forschungsgruppen beteiligen können.

Der Grund: Der Import von existierenden embryonalen Stammzellinien nach Österreich und die Forschung an ihnen ist - worauf auch die Bioethikkommission in ihrer Stellungnahme hinweist - gesetzlich nicht verboten.
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Innenpolitische Scheingefechte
Da offenbar niemand in Österreich an gesetzlich verankerte Forschungsverbote denkt - nicht einmal die Minderheit in der Bioethikkommission des Bundeskanzlers - ist das Lavieren der Wissenschaftsministerin nicht mehr als ein innenpolitisches Manöver, mit welchem offenbar die römisch-katholische Kirche und konservative Wählerkreise besänftig werden sollen.

Schließlich haben der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Schönborn, und der für Europafragen zuständigen Bischof Kapellari nichts unversucht gelassen, um politischen Druck auszuüben.

Man mag das politische Resultat im Stillen als Sieg der Diplomatie über einen fundamentalistischen Moralismus feiern - und bei Bedarf über "Brüssel" und seine Unmoral lamentieren. Der Kanzlerpartei, die sich noch vorgestern bei der Rede zu Lage der Nation als die Europapartei schlechthin in Szene gesetzt hat, steht eine solche Taktik schlecht zu Gesicht. Bioethisch verantwortungsvoll ist das alles nicht.
Opposition im biopolitischen Dornröschenschlaf
Die Opposition macht freilich keine bessere Figur. Für die SPÖ ist das 6. Rahmenprogramm der EU offenbar kein Thema. Auch sonst verzeichnet man bei der SPÖ in bioethischen Fragen Fehlanzeige. Von den Grünen hört man zum Thema Stammzellforschung ebenfalls nicht viel. Dabei hat diese forschungspolitische Frage großes Gewicht.
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Biopolitische Optionen
Noch hat sich der Kanzler nicht zur Stellungnahme seiner Bioethikkommission geäußert. Aber angesichts der forschungspolitischen Wirklichkeit in Europa bleibt eigentlich nur der Weg, sich im Sinne der Mehrheitsposition auf europäischer Ebene an der Ausformulierung strenger Zulassungskriterien zu beteiligen. Nur so können ethische Gesichtspunkte praktisch wirksam werden. Andernfalls schiebt man die Verantwortung anderen zu und gefällt sich mit der Rolle von forschungspolitischen Trittbrettfahrern.
->   Ulrich Körtner: Embryonale Stammzellen - in Österreich tabu?
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Gesetzlicher Regelungsbedarf
Öffentliche Forschungskontrolle impliziert öffentliche Forschungsförderung, will man die Stammzellforschung nicht ganz in die Privatwirtschaft abdrängen. Dass die Stammzellforschung in Österreich nicht verboten, aber auch nicht gesetzlich geregelt ist, halte ich nicht für die beste, sondern für die schlechteste aller möglichen Biowelten.

Die Brüsseler Entscheidung macht klar, dass auf die Dauer auch für Österreich kein Weg an einem eigenen Embryonen- oder Stammzellenforschungsgesetz vorbeiführt, wie es andere europäische Länder bereits haben oder gerade vorbereiten. Das aber traut sich offenbar derzeit in Österreich kein Politiker öffentlich zu sagen.
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Blick ins benachbarte Ausland
Erst kürzlich hat der deutsche Bundestag ein Stammzellgesetz verabschiedet, das den Import von embryonalen Stammzellen und die Forschung an ihnen regelt. Erlaubt ist die Forschung jedoch nur an solchen Stammzellinien, die bereits vor einem bestimmten Stichtag - dem 1. Jänner 2002 - existierten. Die Einhaltung der strengen Auflagen des Gesetzes obliegt einer staatlichen Behörde sowie einer eigens einzurichtenden Zentralen Ethik-Kommission.
->   science.ORF.at: Deutsches Stammzellengesetz verabschiedet
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Gesetzgeberische Aktivitäten in der Schweiz
Auch die Schweiz bereitet derzeit ein Embryonenforschungsgesetz vor. Dem Vernehmen nach wird dieses Gesetz nicht nur den Import von existierenden Stammzellinien regeln, sondern unter bestimmten Auflagen sogar die Herstellung neuer Stammzellinien in der Schweiz erlauben, wenn die verwendeten Embryonen nachweislich nicht zu diesem Zweck erzeugt worden, sondern bei der In-vitro-Fertilisation angefallen sind und nicht mehr implantiert werden können. Mit der Veröffentlichung des Gesetzentwurfs ist noch im Mai zu rechnen.
->   science.ORF.at: Schweiz - Experten empfehlen Stammzellregelung
Schlusslicht Österreich
Österreich ist unter der deutschsprachigen Ländern das Schlusslicht in der Stammzellen-Diskussion. Immerhin finden sich im Mehrheitsvotum der Bioethikkommission Eckdaten für ein allfälliges Stammzellforschungsgesetz. Noch aber fehlt der politische Wille, sich des Themas wirklich anzunehmen.

Österreichs bioethisches Hauptproblem ist nicht die embryonale Stammzellforschung als solche, sondern der Mangel an politischer Courage und Ehrlichkeit. Der aber könnte sich schon bald rächen.
->   Sämtliche Artikel von Ulrich Körtner in science.ORF.at
 
 
 
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