Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben 
 
Wissenschaft und Öffentlichkeit
Welche gesellschaftliche Rolle spielt die Wissenschaftsethik?
 
  "Wie kommt die Wissenschaft in die Öffentlichkeit?" Dieser Frage ging eine Podiumsdiskussion im Rahmen der ScienceWeek 2002 nach. Welche Rolle Wissenschaftsthemen in moralischen und politischen Diskursen spielen, beleuchtet der nachfolgenden Beitrag.  
Ethik in der Risikogesellschaft
Über einen Mangel an Aufmerksamkeit braucht sich die Disziplin der Ethik derzeit nicht zu beklagen. Im öffentlichen - und das heißt auch politischen - Diskurs eines sich als "Risikogesellschaft" (Ulrich Beck) begreifenden Gemeinwesens ist der Bedarf an Ethik in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen.

Die Frage nach dem Ethos der Wissenschaft gehört ebenfalls dazu. So sind es heute gerade ethische Fragen, welche das öffentliche Interesse an Forschung und Wissenschaft wecken. Gentechnik, Klonen, Stammzellforschung, das sind die Reizworte in der öffentlichen Debatte.
Pluralismus der Öffentlichkeiten
Freilich gibt es "die" eine Wissenschaft heutzutage ebenso wenig wie die Öffentlichkeit. Die Wissenschaft hat sich längst in viele selbständige Disziplinen ausdifferenziert und ist in Österreich dabei, sich auch organisatorisch stärker auszudifferenzieren - Stichwort "Universitätsreform" (z.B. Verselbständigung der medizinischen Fakultäten zu eigenen Universitäten).

Aber auch die Öffentlichkeit tritt in pluraler Gestalt auf. Es gibt unterschiedliche Öffentlichkeiten, die einander nur zum Teil wahrnehmen und sich nur selten zu der einen großen Öffentlichkeit - womöglich gar einer "Weltöffentlichkeit" - synchronisieren lassen.

Was "die" Öffentlichkeit denkt, ist schwer zu erfassen. Der Versuch, in diese "Black Box" einzudringen, ist das Arbeitsfeld der Meinungsforschung, die freilich auch nur Konstrukte von Öffentlichkeit liefern kann.
Veränderte Medienlandschaft ...
Einerseits besteht die "Erlebnisgesellschaft" (Gerhard Schulze) aus einer Fülle von Milieus. Andererseits verändert sich auch die Landschaft der Medien, ohne welche sich Öffentlichkeit als Kommunikationsraum nicht herstellen lässt.

Selbst das bisherige Leitmedium Fernsehen ist durch die Vielzahl von Kanälen ein Beispiel für die "neue Unübersichtlichkeit" (Jürgen Habermas). Neben ihm hat sich inzwischen das Internet etabliert, welches ganz neue Kommunikationsformen schafft.
... und neue Kommunikationsformen
Wenn wir darüber diskutieren, wie Wissenschaft in "die" Öffentlichkeit kommt, müssen unser Gespräch sowohl dem Pluralismus innerhalb der Wissenschaft wie auch dem Pluralismus von Öffentlichkeiten und ihren Inszenierungen Rechnung tragen.

In welchen Öffentlichkeiten will Wissenschaft präsent sein? Und mit welcher Zielsetzung? Haben wir für bestimmte Fragestellungen die geeigneten Medien?
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Das Beispiel Bioethik
Nehmen wir das Beispiel der Bioethik. Es ist schon häufig Klage darüber geführt worden, wie sporadisch hierzulande die bioethische Debatte geführt, ganz im Unterschied etwa zu Deutschland. Das ist nicht nur eine Frage der politischen Kultur, sondern auch der medialen Rahmenbedingungen.

Eine derart intensive Debatte wie die deutsche über das Pro und Contra der Stammzellforschung ist ohne Printmedien wie die Frankfurt Allgemeine Zeitung oder DIE ZEIT gar nicht möglich. In Österreich scheitert eine vergleichbare Debatte schon daran, dass wir keine vergleichbaren Printmedien haben, in denen ausführliche Beiträge publiziert werden können. Wer in Österreich zu Fragen der Bioethik publizieren will, muss sich selbst in so genannten Qualitätszeitungen mit Gastkommentaren im Umfang von 3.600 Zeichen begnügen.
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Cyberscience
M.E. ist zu überlegen, ob nicht das Internet - ich denke hier vor allem an das Portal science.orf.at - verstärkt für den Aufbau entsprechender Diskussionsforen genutzt werden kann. Das setzt freilich voraus, dass sich Wissenschaftler als Autoren auf dieses Medium und seine besonderen Kommunikationsregeln einlassen.
Ethikboom und Ethikkrise
Wer sich mit wissenschaftsethischen Themen befasst, steht freilich vor einem irritierenden Dilemma. Der gegenwärtige Ethikboom, der sich an der Einrichtung immer weiterer Ethikkommissionen ablesen lässt, wächst offenbar umgekehrt-proportional zur tatsächlichen Leistungsfähigkeit der Ethik.

Die risikoträchtige Weltgesellschaft erlebt sich als multikulturell und multireligiös, mit der Folge, dass sich der ethische Konsens in der bloßen Forderung nach mehr Ethik oder nach einer neuen Moral auch schon erschöpft.

Die gesellschaftlichen Risiken wachsen ins Globale, doch zugleich schwinden die von der europäischen Aufklärung geweckten Hoffnungen auf die Möglichkeit der Begründung einer universal gültigen Ethik, von ihrer politischen Durchsetzbarkeit ganz zu schweigen, wie schon das Beispiel der Menschenrechtsidee zeigt.
Dialektik der Aufklärung
Die negativen Folgen moderner Rationalität durch Berufung auf eine Ethik der transzendentalen Vernunft beseitigen zu wollen, scheint nichts anderes als der Versuch zu sein, den Teufel durch Beelzebub auszutreiben, ist es doch auch der "Dialektik der Aufklärung" zuzurechnen, dass schon das bloße Bemühen um eine rational begründete Ethik den Anschein der Antiquiertheit erwecken kann.
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Ethik oder Sozialtechnik?
Bereits 1972 stellte der Philosoph Walter Schulz in seinem Buch "Philosophie in der veränderten Welt" fest: "Die Verwissenschaftlichung hat sich auf dem Gebiet der Anthropologie dahin ausgewirkt, dass Fragen, die früher dem ethischen Bereich zugerechnet wurden, jetzt von bestimmten Wissenschaften übernommen werden, so vor allem von der Verhaltensforschung, der Psychologie und den Sozialwissenschaften."

Wie sich hinzufügen lässt, gehört es zur "Dialektik der Aufklärung", dass sie die Herrschaft der neuzeitlichen Technik vollendet hat, eben jene Technokratie, welche einen Großteil der ethischen Konflikte allererst heraufbeschworen hat, für die heute so dringend nach Lösungen gesucht wird. Selbst noch die gesellschaftskritischen Aufklärer der Aufklärung partizipieren am modernen "Trend zur Technologie".
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Misstrauen gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt
Vor dreißig Jahren stellte Schulz die Diagnose, dass die Forderung des ethischen Engagements innerhalb der zeitgenössischen Philosophie keine entscheidende Rolle spiele.

Inzwischen hat sich die Bewusstseinslage vordergründig völlig verändert. Allerorten erschallt der Ruf nach Ethik. Dieselbe Wissenschaft, welche für die Abdankung der Ethik verantwortlich gemacht worden ist, stößt inzwischen in der Gesellschaft auf ein tiefes Unbehagen und Misstrauen.
Ethisierung der Wissenschaften
Nach der Verwissenschaftlichung der Ethik scheint nun die Ethisierung der Wissenschaften, nach der Politisierung der Moral die Moralisierung der Politik gekommen zu sein. Der Bedarf an Ethik soll durch neu errichtete Institute und Lehrstühle gedeckt werden.

Ethik in den Wissenschaften, näherhin Medizin-, Wirtschafts- und Umweltethik sind inzwischen als neue Forschungsbereiche etabliert. Außerdem bemühen sich die Kirchen und christliche Kreise, das globale Verantwortungsbewusstsein durch das Postulat einer Schöpfungsethik zu schärfen.
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Die neuen Genetiv-Ethiken
Bei genauerer Betrachtung lässt sich allerdings bezweifeln, dass sich die Situation der Ethik tatsächlich so grundlegend geändert hat, wie es zunächst den Augenschein haben mag. Es ist ein bemerkenswertes Indiz, dass eine Vielzahl von Genetiv-Ethiken von interessierter Seite gefordert und gefördert werden, um die geschwundene Akzeptanz von Wissenschaft und Technik zurückzugewinnen.

Der inflationäre Gebrauch des Ethikbegriffs beweist noch lange nicht, dass es eine Fortschritt in der ethischen Theoriebildung, geschweige denn eine "neue Ethik" gibt. Die ethische Suche nach pragmatischen Lösungen technokratischer Probleme und Konflikte trägt über weite Strecken selbst die Züge technischer Rationalität.
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Unbehagen an der Kultur
Im Ruf nach einer Erneuerung der Ethik oder gar einer neuen Ethik kann sich auf der anderen Seite der Protest gegen diese Rationalität äußern, ein allgemeines Unbehagen an der Kultur. Im gesellschaftlichen Streit ist das Urteil moralischer Instanzen gefragt, deren Autorität den Mangel an ethischen Argumenten kompensieren soll.

Zumindest im Bereich der Biopolitik neigen die politisch Verantwortlichen dazu, sich aus der vordersten Linie der forschungspolitischen Fragen zurückzuziehen und lieber im Hintergrund von Expertengremien zu agieren.

Wenn aber Ethik die Grundlagen und die Einheit von Wissenschaft und Gesellschaft garantieren soll, wer oder was gewährt dann die Einheit der Ethik oder eröffnet zumindest die Hoffnung auf künftigen Konsens?
Kommt die Ethik immer zu spät?
Dieses ungelöste Problem ist mindestens so gewichtig wie der weitere Umstand, dass die ethische Reflexion mit der Geschwindigkeit, in welcher z.B. die mit dem wissenschaftlichen Fortschritt verbundenen Risiken und die Komplexität ihrer Konfliktpotentiale zunehmen, kaum Schritt halten kann.

Überhaupt wird die Ethik immer erst dann auf den Plan gerufen, wenn die Forschung bereits Fakten geschaffen hat. Die übliche Arbeit in Ethikkommissionen reduziert sich dann auf die Abschätzung von Risiken, d.h. auf eine Kosten-Nutzen-Analyse. Aber inwiefern ist Risikoforschung schon Ethik?
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Die politische Rolle von Ethikkommissionen
Europaweit lässt sich die Tendenz beobachten, dass sich die politischen Entscheidungsträger hinter Ethikkommissionen verstecken, um entweder ihre mangelnde Entschlussbereitschaft als ethische Bedenkenträgerei zu verbrämen oder aber an den Parlamenten vorbei ihre Biopolitik voranzutreiben. Das mag populär sein, ist aber doch nur eine subtile Form des Populismus.

Politische Fragen werden zu moralischen erklärt, so dass neue Formen einer nicht auf den ersten Blick als solche erkennbaren "Subpolitik" entstehen, in welcher Expertengremien eine ihnen oft selbst nicht ganz durchschaubare Rolle spielen.
->   Birgit Dalheimer, science.ORF.at: Die Rolle von Ethik-Kommissionen in der Biopolitik
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Wissenschaftsethik und Demokratie
Demokratiepolitisch ist diese Entwicklung bedenklich, weil sie zu einer Schwächung des Parlamentarismus führt. Nicht nur in Österreich, sondern auch in den übrigen europäischen Ländern fällt auf, dass die Regierungschefs Kommissionen als eine Art von Ersatz- oder Schattenparlament einsetzen.

Man denke nur an die offenkundige Konkurrenz zwischen der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" des deutschen Bundestages und des von Bundeskanzler Schröder ins Leben gerufenen Nationalen Ethikrates.

Auf der Gegenseite steht "das Volk", das in plebiszitären Kampagnen immer neu erfunden wird, um Politik als mediale und emotionalisierte Veranstaltung zu inszenieren. Auf dem Feld der Biopolitik ist hierfür das österreichische Gentechnikvolksbegehren von 1997 ein anschauliches Beispiel.
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Verschiedene Demokratiemodelle
Der offiziellen Lesart nach dienen plebiszitäre Elemente in der Verfassung dazu, die Bürgerinnen und Bürger stärker an der demokratischen Willensbildung zu beteiligen. In der Praxis aber verstärken sie heute den Trend zur Schwächung des Parlamentarismus, worin durchaus eine Gefährdung der repräsentativen Demokratie zu sehen ist.

Gerade das Beispiel der Bioethik zeigt, wie notwenig es ist, nicht nur über die Rolle von Wissenschaft und Ethik in der modernen Demokratie nachzudenken, sondern zugleich über unterschiedliche Demokratiemodelle zu diskutieren. Neben dem klassischen Modell der repräsentativen Demokratie stehen heute Modelle der partizipativen und der deliberativen Demokratie.
Ulrich Körtner: Kein Patent auf Leben? Jetzt ist die Politik gefragt
Franz Seifert: Zum Verbleib der Politik - Replik auf Ulrich Körtner
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Gemengelage von Wissenschaft, Ethik und Politik
Wissenschaftsethische Fragen sind immer schon wissenschaftspolitische Fragen. Dabei stehen sich nicht eine vermeintlich subjektive Moral - über Fragen der Moral, so ein häufig geäußerter Satz, kann man nicht abstimmen - und eine objektive Wissenschaft gegenüber. Vielmehr bilden moralische Werturteile und wissenschaftliche Sachurteile häufig einen gemischten Sachverhalt.

Man denke nur an das Beispiel des Klimawandels, den wissenschaftlichen Streit um sein Ausmaß, den Anteil an anthropogenen Ursachen und notwendige Schlussfolgerungen für die Umwelt- und Wirtschaftspolitik. Auch der Risikobegriff kann eine enge oder weite Definition erhalten.
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Das Risiko der Moral
Wenn z.B. auch sozialpolitische Fragen in einen erweiterten Risikobegriff oder eine weite Fassung des "Vorsorgeprinzips" eingehen, geraten wissenschaftliche Faktenerhebung und Ursachenforschung und ethische Bewertungen in eine komplizierte Gemengelage.

In ihr gilt es, nicht nur vor dem ideologischen Missbrauch wissenschaftlicher Ergebnisse, sondern ebenso vor allzuviel Moral zu warnen. Ethik und Wissenschaft sollten sich daher gemeinsam auf ihren der kritischen Aufklärung verpflichteten Auftrag besinnen.
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Mediale Erregungen
Einen hohen Stellenwert messe ich einem qualitätsvollen Wissenschaftsjournalismus für die öffentliche und die politische Meinungsbildung bei. Bioethische Themen wie die Gentechnik oder die Embryonenforschung, aber auch religiöse Themen wie der islamische Fundamentalismus eignen sich besonders gut, Emotionen zu erzeugen, um mit ihnen Politik zu machen.

Besonders bedauerlich ist es, wenn derartige Reizthemen, die sehr komplex sind und für die es keine einfachen Lösungen gibt, politisch für ganz andere Zwecke instrumentalisiert werden. Der Kampf gegen Temelin - so berechtigt die Bedenken gegenüber der Atomenergie auch sein mögen - ist dafür ein trauriges Beispiel.
Die gesellschaftliche Aufgabe des Wissenschaftsjournalismus
Eine funktionierende Demokratie braucht nicht nur einen seriösen politischen, sondern auch einen guten Wissenschaftsjournalismus. Mündige Bürger sind auf umfassende Informationen, d.h. aber auch auf fachwissenschaftliche Informationen angewiesen.

Wenn politische Bewertungen die wissenschaftlichen Sachinformationen völlig in den Hintergrund drängen, ist das demokratiepolitisch durchaus bedenklich.
Ökonomie der Aufmerksamkeit
Freilich hat sich auch der Wissenschaftsjournalismus vor der Versuchung zum Sensationalismus zu hüten, die von den allgemeinen Spielregeln einer "Ökonomie der Aufmerksamkeit" (Georg Franck) in der modernen Mediengesellschaft ausgehen.

Gleiches gilt übrigens auch für Wissenschaftler, die selbst zu einem Teil der Mediengesellschaft geworden sind und ihre Rolle selbstkritisch reflektieren sollten.
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Science goes public
"Sciences goes public": Will Wissenschaft mit der Öffentlichkeit kommunizieren, müssen Wissenschaftler nicht nur den Umgang mit Journalisten lernen, sondern auch neue Kommunkationsformen üben, ohne dabei selbst zum Wissenschaftsjournalisten zu mutieren.

Es bedarf sowohl der Kommunikation als auch der Rollen- und Arbeitsteilung zwischen dem Wissenschaftsjournalismus und der Öffentlichkeitsarbeit von Wissenschaftlern. Hier ist eine Schnittstelle zwischen Wissenschaftsethik und Medienethik.
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Wissenschaftsjournalismus an der Schnittstelle zur Politik
Recht verstanden hat der Wissenschaftsjournalismus eine eminent politische Aufgabe - indem er gerade nicht politisiert, sondern umfassend, allgemeinverständlich und differenziert informiert. Ein qualitätsvoller Wissenschaftsjournalismus verdient jede Unterstützung von seiten der Forschung. Auch dies ist eine Frage der Moral.
->   Franz Seifert: Wissenschaft und Öffentlichkeit: Wer gehört wird und wer nicht
->   Sämtliche Artikel von Ulrich Körtner in science.ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben 
 

 
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