Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Leben .  Gesellschaft 
 
Politik des Lebens
Über das Verhältnis von Bioethik und Biopolitk
 
  Im Jahr 2001 nahm die österreichische Bioethikkommission ihre Arbeit auf. Die Biomedizinkonvention des Europarates, die EU-Biopatentrichtlinie und die Forschung an embryonalen Stammzellen waren die Themen, zu denen die Kommission seither Stellung bezog. Doch was genau ist "Biopolitik" und welche Rolle spielt für sie die Ethik?  
Politik und "Life Sciences"
Als Biopolitik lässt sich "jenes Feld politischen Handelns" bezeichnen, "das seine Dynamik aus den neuen Erkenntnissen der Lebenswissenschaften entwickeln und folglich alles umschließen soll, was produktiv mit dem Leben umzugehen versucht" (Volker Gerhardt).
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Buchhinweise
Volker Gerhardt: Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität, München 2001.

Andreas Kuhlmann: Politik des Lebens - Politik des Sterbens. Biomedizin in der liberalen Demokratie, Berlin 2001.
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Kolonialisierung des Lebens
Michel Foucault hat die These vertreten, dass sich die Politik in der Moderne insgesamt in Biopolitik verwandelt und nicht etwa nur ein Teilgebiet derselben ist: "Jahrtausende ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendiges Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht." Dabei werden die Grenzen zwischen moderner Biomedizin und den "Life Sciences", die sich das nicht menschliche Leben technisch nutzbar zu machen versuchen, fließend.
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Buchhinweise
Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M. 1977.

Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002.
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"Biopolitik" bei Aristoteles
In gewisser Hinsicht war freilich schon für Aristoteles alle Politik "Biopolitik". Bekanntlich hat Aristoteles drei als bioi bezeichnete Lebensweisen des Menschen - genauer gesagt des freien Mannes - unterschieden, nämlich das Leben, das sich auf den Genuss des körperlich Schönen richtet, das Leben des Philosophen und das Leben, das innerhalb des Gemeinwesens - der Polis - schöne Taten erzeugt. Letzteres bezeichnet Aristoteles als bios politikos, der freilich vom bloßen Organisiertsein des menschlichen Zusammenlebens oder von despotischer Herrschaft unterschieden ist.
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Zwei unterschiedliche Lebensbegriffe
Die griechische Sprache und die antike Philosophie unterscheiden zwei Lebensbegriffe, nämlich bios und zoe. Während als zoe die biologischen Phänomene bezeichnet werden, ist - unserem heutigen Sprachempfinden widersprechend - unter bios die menschliche Lebensführung verstanden.
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Vita Activa
Im Anschluss an Aristoteles hat Hannah Arendt zwischen drei Grundformen des tätigen Lebens unterschieden, nämlich zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln. Die dem bios politikos gemäße Tätigkeit aber sei das Handeln, welches sich im Unterschied zu den anderen beiden Tätigkeitsformen "ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen" abspiele.
Der Mensch wird geboren
Geburtlichkeit und Sterblichkeit seien die allgemeinsten Bedingungen des menschlichen Lebens im Allgemeinen wie des bios politikos im Besonderen. "Und da Handeln [...] die politische Tätigkeit par excellence ist, könnte es wohl sein, dass Natalität für politisches Denken ein so entscheidendes, Kategorien-bildendes Faktum darstellt, wie Sterblichkeit seit eh und je und im Abendland zumindest seit Plato der Tatbestand war, an dem metaphysisch-philosophisches Denken sich entzündete."
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Buchhinweis
Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 12. Aufl., München 2001.
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Manipulierte Geburtlichkeit
Unter dem Vorzeichen der modernen Biotechnologie ist freilich die Geburtlichkeit nicht länger der Anfang eines sich ohne jede materielle oder instrumentelle Vermittlung zwischen Menschen abspielenden Handelns, sondern Gegenstand technischer Manipulationen.
Hoffnungen und Ängste gegenüber dem biotechnologischen Fortschritt kreisen um die Möglichkeit, dass der Mensch seinesgleichen völlig instrumentalisiert bzw. animalisiert oder aber sich selbst abschaffen könnte, indem er mit den bisherigen biologischen Grundlagen der Gattung Homo sapiens sapiens auch deren Wesen radikal umgestaltet und aus sich selbst durch Züchtung eine neue Gattung hervorbringt.
Moralisierung der menschlichen Natur
In dieser Gefahr besteht die eigentliche biopolitische Herausforderung, welche nun die Bioethik auf den Plan ruft. Deren politische Stoßrichtung lässt sich mit Wolfgang van den Daele als Versuch einer "Moralisierung der menschlichen Natur" begreifen: "Was durch Wissenschaft technisch disponibel geworden ist, soll durch moralische Kontrolle normativ wieder unverfügbar gemacht werden."
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Die Kirchen und die Biopolitik
Verständlicherweise fühlen sich insbesondere die Kirchen an dieser Stelle angesprochen. Auf der aristotelischen Linie bewegt sich die römisch-katholische Kirche, wenn sie die Geburtlichkeit des Menschen vor jeder technischen Manipulation geschützt sehen möchte und daher schon die In-vitro-Fertilisation ablehnt. So weit gehen die evangelischen Kirchen allerdings nicht, doch überwiegen auch in ihnen die kritischen Stimmen, die vor den Gefahren der Menschenzüchtung warnen.
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Gattungsethik und Unverfügbarkeit des Lebens
Beide Kirchen mögen sich in ihrem bioethischen und biopolitischen Engagement durch einen Philosophen wie Jürgen Habermas bestätigt sehen, der zwar eine religiöse Begründung für eine Ethik der biotechnologischen Selbstbegrenzung in einem nachmetaphysischen Zeitalter für unerschwinglich hält und in der Frage des Lebensbeginns durchaus anders als die Kirchen argumentiert, gleichwohl aber einen quasireligiösen Begriff des Unverfügbaren für unabdingbar hält. Die "postmetaphysische Enthaltsamkeit" stoße nämlich an ihre Grenzen, sobald es um Fragen einer "Gattungsethik" gehe.
Zu diesem Zweck möchte Habermas zwischen dem Unantastbaren - gemeint ist konkret die Menschenwürde, die er Embryonen noch nicht zugestehen möchte - und dem Unverfügbaren unterscheiden, das "unserer Verfügung aus guten moralischen Gründen entzogen sein" kann.
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Buchhinweis
Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a. M. 2001.
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Bioethik und Ideologiekritik
Anstatt die von Van den Daele und Habermas propagierte Moralisierung der menschlichen Natur unreflektiert religös zu verstärken, sehe ich eine wesentliche Aufgabe nicht nur der Philosophie, sondern auch der Theologie gerade umgekehrt in der ideologiekritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und kirchlichen Tendenzen der Resakralisierung der menschlich Natur, genauer gesagt der von personaler Existenz und ihrer Lebensgeschichte zunächst technisch abstrahierten Formen menschlichen Leben. Denn eben darum handelt es sich z. B. bei in vitro fertilisierten Embryonen.
Der Lebensbegriff in der bioethischen Debatte
In der bioethischen Diskussion überlappen sich philosophische Traditionen wie die Lebensphilosophie und ihr Vitalismus, Anleihen bei Schopenhauers Mitleidsethik und Nietzsches Lehre vom Willen zum Leben, Henri Bergsons Theorie von einem universalen Elan vital, utilitaristische Ansätze einer Ethik der Interessen und biologisch-naturwissenschaftliche Kategorien.
Durch die Verquickung der beiden Lebensbegriffe bios und zoe kann der Eindruck erweckt werden, als enthalte das Phänomen des Lebens bzw. der Existenz von Lebendigem bereits eine moralische Forderung in sich. Doch handelt es bei dieser Annahme um einen so genannten naturalistischen Fehlschluss (David Hume). Denn in Wahrheit folgt aus einem Sein noch kein Sollen. Das gilt für die Moral ebenso wie für die Naturgeschichte, sind doch die heute existierenden Arten des Lebendigen das Resultat eines langen Selektionsprozesses, der fortdauert.
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Buchhinweis
Ulrich Körtner: Unverfügbarkeit des Lebens? Grundfragen der Bioethik und der medizinischen Ethik, Neukirchen-Vluyn 2001.
->   Ulrich Körtner: Der Lebensbegriff in der bioethischen Diskussion
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Mensch nach Maß?
Keinesfalls sollen die Gefahren, die mit dem Entwicklungsschritt vom Homo faber zum Homo fabricatus heraufziehen, heruntergespielt werden. Wenn Kinder ihre Existenz den vorfabrizierten Wunschvorstellungen ihrer Eltern verdanken, mit denen sie später konfrontiert werden, "verlieren sie womöglich jenen Spielraum, der notwendig ist, um den eigenen Weg gehen zu können" (Andreas Kuhlmann). Die für unser Selbstsein notwendige Symmetrie interpersonaler Anerkennungsverhältnisse könnte dadurch angetastet und in Frage gestellt werden.
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Elternschaft und Kindschaft
Dennoch haftet der gegen diese Gefahr von Habermas aufgebotenen Unterscheidung zwischen Gewordenem und Gemachtem etwas Arbiträres an, zumal das Verhältnis von Eltern und Kindern immer von einer gewissen Asymmetrie geprägt ist. Die Rollen in der Generationenfolge sind nämlich nicht austauschbar, auch wenn das Ziel darin besteht, die Kinder zur Selbstständigkeit zu erziehen, sodass wechselseitige Anerkennung und gegenweitiger Respekt möglich werden.

Es fällt Habermas erkennbar schwer zu zeigen, weshalb z. B. mögliche neurotische Fixierungen so genannter Wunschkinder für die Betroffenen ein qualitativ gänzlich anderes Problem darstellen sollen als diejenigen, welche mit dem Wissen um den Einsatz reproduktionstechnischer Verfahren einschließlich der Präimplantationsdiagnostik oder gar eines Eingriffs in das Genom verbunden wären. Letztlich artikuliert er nicht viel mehr als eine - durchaus nicht unbegründete - "Beunruhigung", gegen die er die "Intention", menschliches Leben selbst im frühesten Stadium zu schützen, aufbieten möchte, auch wenn er Embryonen noch nicht für menschliche Personen hält.
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Funktion der Religion
Religion und Glaube geben eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz, indem sie dem Menschen ein bestimmtes existenzielles Verständnis seiner selbst erschließen. So ist auch der Glaube, dass die Welt und der Mensch Gottes Schöpfung sind, nicht als eine quasi- oder pseudowissenschaftliche Entstehungstheorie misszuverstehen, die in Konkurrenz zu naturwissenschaftlichen Deutungen der Wirklichkeit steht, sondern der Ausdruck eines elementaren Kreaturgefühls.
Martin Luther hat das im Kleinen Katechismus folgendermaßen ausgedrückt: "Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält." Was bedeutet es für das eigene Selbstverständnis, wenn ein Mensch sich künftig als das technisch erzeugte Produkt anderer Artgenossen begreifen muss?
Schöpfungsglaube im Zeitalter der Biotechnologie
Wenn für den biblischen Schöpfungsglauben ein Wahrheitsanspruch erhoben werden kann, muss er selbst noch unter den Bedingungen der modernen Biomedizin gelten. Sollte sich die Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen mit der Anwendung bestimmter Reproduktionstechniken prinzipiell erledigen, dann handelte es sich im pejorativen Sinn nur um einen obsoleten Mythos.
Wenn sich in der Rede von der Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen aber ein im Glauben erschließbares Daseinsverständnis ausspricht, dann muss dieses auch noch eine gegenwärtige Möglichkeit menschlicher Selbstdeutung sein. Der Einsatz technischer Mittel in der Reproduktion als solcher stellt die christliche Schöpfungslehre und Anthropologie zwar vor neue hermeneutische Herausforderungen, setzt jedoch die Deutung der eigenen Existenz als von Gott geschaffen nicht prinzipiell außer Kraft.
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Leiblichkeit und körperliche Unversehrtheit
Der eigene Körper ist allerdings die notwendige Bedingung unserer Existenz als Person. Das Recht auf Leben schließt das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein. Nicht jeder Eingriff in die Leibsphäre ist aber als Angriff auf dieses Recht und auf die Menschenwürde zu verstehen, sofern er medizinisch-diagnostischen und therapeutischen Zwecken dient, die gerade der Erhaltung des Lebens dienen.

Besonders sensibel sind allerdings Eingriffe in das menschliche Genom, und hier insbesondere Versuche in Richtung Keimbahntherapie, deren Schaden möglicherweise größer als der intendierte therapeutische Nutzen wäre und die einen massiven Eingriff in die Integrität des Ungeborenen darstellen würden. Aus gutem Grund ziehen Menschenrechtsdokumente und staatliche Gesetze hier eine Grenze.
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Die Würde des Menschen
Ob die Würde der Menschen und die zwischen ihnen intendierte Symmetrie angetastet wird, ist in erster Linie nicht eine Frage des Einsatzes medizinischer Techniken, sondern der mit ihrer Anwendung verbundenen Zielen. Sie müssen allerdings der ethischen Prüfung unterzogen werden. Dennoch: Die Anerkennung eines Menschen als Meinesgleichen darf nicht von der Naturwüchsigkeit seines Körpers abhängig gemacht werden, sondern von seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung.
Theologisch gesprochen ist es die von unserer biologischen Beschaffenheit unabhängige zuvorkommende und freie Gnade Gottes, welcher der Mensch seine Anerkennung und Rechtfertigung verdankt. Die Unanstatbarkeit der Menschenwürde hängt daher nicht von einer auch theologisch fragwürdigen Resakralisierung des Natürlichen ab.
Heil und Heilung
Bioethisch relevant ist auch die Erlösungshoffnung des christlichen Glaubens. Kritiker mögen in der Hoffnung über den Tod hinaus eine billige Vertröstung sehen. Man kann die Erlösungshoffnung des Glaubens aber auch so verstehen, dass sie die moderne Medizin vor der Gefahr schützt, ihrerseits zu einer quasireligiösen Heilslehre überhöht zu werden.
Zwar schließt das biblische Gebot der Nächstenliebe die Verpflichtung zum Heilen ein. Auch die im Neuen Testament geschilderten Heilungswunder Jesu und die alte Denkfigur des Christus medicus stehen dafür. Jedoch stehen alle menschlichen Heilungsversuche unter dem Vorbehalt ihrer Vorläufigkeit und Begrenztheit. Bei aller Bewunderung für die Leistungen der modernen Medizin brauchen und sollten wir von ihr keine Wunder oder Übermenschliches erwarten.
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Die Gefahren des therapeutischen Imperativs
Heilung und Heil sind voneinander zu unterscheiden. Andernfalls steht der medizinische Fortschritt in der Gefahr, vom Geist der Utopie zur Barbarei verführt zu werden. Die Geschichte und insbesondere die Medizinverbrechen des 20. Jahrhunderts belehren uns, "was für eine ungeheuer expansive und destruktive Kraft der - echte oder vorgebliche - Wunsch entfalten kann, Menschen zu heilen. Dieser Dynamik fallen dann allzu schnell jene zum Opfer, die als unheilbar gelten. Man sollte sich hieran erinnern, damit der 'therapeutische Imperativ' nicht als ein 'kategorischer Imperativ' missverstanden wird und inhumanen Interventionen Tür und Tor öffnet" (Andreas Kuhlmann).
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Keine Selbsterlösung
Es gehört zu den Grundaussagen der Bibel, dass der Mensch weder sich selbst noch die Welt erlösen kann, weder auf dem Weg der Moral noch durch irgendeine "Anthropotechnologie" (Peter Sloterdijk). Der alte Mensch im biblischen Sinne ist nicht verbesserungs-, sondern vergebungsbedürftig. Das schöpferische Wort der Vergebung aber macht ihn nicht besser, sondern neu.
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Recht auf Unvollkommenheit
Eine nicht zu leugnende Gefahr der Gegenwart besteht in neuen Formen eines weltanschaulichen Reduktionismus, der sich auf die Ergebnisse der modernen Genetik meint stützen zu können. Die Diskussion über neue Formen der Selektion oder der Menschenzüchtung verstärkt die Notwendigkeit, das Recht auf Unvollkommenheit zu verteidigen und seine positive Bedeutung für die Humanität unserer Gesellschaft zu verdeutlichen. Schon genetisch betrachtet ist der Mensch ein unvollkommenes Wesen. Dass er es auch bleiben darf, ist sein zu verteidigendes Recht.
->   Ulrich Körtner: Nobody is perfect
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Grenzen der Freiheit
Versuche, den Gefahren des biomedizinischen Fortschritts mit politischen Mitteln wirksam zu begegnen - z. B. durch gesetzliche Verbote und Einschränkungen -, können freilich mit den Grundwerten der persönlichen Freiheit und des Rechts auf Selbstbestimmung kollidieren. Wachsende Wahlfreiheiten auf dem Gebiet der Biomedizin, z. B. im Bereich der Reproduktionsmedizin, entsprechen nämlich der liberalen Forderung nach Autonomie in der persönlichen Lebensführung.
Bioethisch und -politisch ist folglich auszuhandeln, in welchem Umfang und mit welchem Recht die Gesellschaft bzw. der Staat die Inanspruchnahme biomedizinischer Möglichkeiten einschränken darf, weil davon gerade die Erhaltung der grundlegenden Bedingungen menschlicher Freiheit und wechselseitiger Anerkennung als gleichberechtigte Personen abhängt. Die Durchsetzbarkeit biopolitischer Grenzziehungen hängt aber entscheidend davon ab, inwiefern die Mitglieder der Gesellschaft auf Grund eigener Einsicht zur "begründeten Enthaltsamkeit" (Habermas), d. h. zur Selbstbegrenzung ihrer Ansprüche an den biomedizinischen und biotechnologischen Fortschritt, bereit sind.
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Die politische Funktion von Ethikkommissionen
Biopolitik kann sich freilich auch hinter der Bioethik verbergen. Durch die Institutionalisierung der Bioethik in Kommissionen, die von der Politik eingesetzt werden, entstehen neue Formen der "Subpolitik" (Ulrich Beck), die als solche nicht immer erkennbar und öffentlich kontrollierbar sind und in welchen Expertengremien eine ihnen oft selbst nicht ganz durchschaubare Rolle spielen.
->   Birgit Dalheimer: Die Rolle von Ethikkommissionen in der Biopolitik
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Sachurteile und Werturteile
Auch stellt sich die Frage, was Ethik - zumal in der modernen pluralistischen Gesellschaft - tatsächlich politisch bewirken kann und was nicht. Wissenschaftsethische Fragen sind immer schon wissenschaftspolitische Fragen. Dabei stehen sich nicht eine vermeintlich subjektive Moral - über Fragen der Moral, so ein häufig geäußerter Satz, kann man nicht abstimmen - und eine objektive Wissenschaft gegenüber. Vielmehr bilden moralische Werturteile und wissenschaftliche Sachurteile häufig einen gemischten Sachverhalt.
Man denke nur an das Beispiel des Klimawandels, den wissenschaftlichen Streit um sein Ausmaß, den Anteil an anthropogenen Ursachen und notwendige Schlussfolgerungen für die Umwelt- und Wirtschaftspolitik. Ein weiteres Beispiel ist die Debatte über den ontologischen, moralischen und rechtlichen Status von Embryonen.
Die Ambivalenz von Moral
Aufgabe der Ethik ist es, nicht nur vor dem therapeutischen Imperativ der modernen Biomedizin oder dem ideologischen Missbrauch wissenschaftlicher Ergebnisse, sondern ebenso vor zu viel Moral zu warnen, wie der Soziologe Niklas Luhmann scharfsinnig bemerkt hat.
Gerade so verstehe ich den Beitrag der Theologie zum gegenwärtigen bioethischen Diskurs: Er daf sich nicht in der schöpfungstheologischen Begründung der Unverfügbarkeit des Lebens erschöpfen. Wenn die Würde des Menschen darin besteht, dass der nicht auf Grund seiner Werke oder seiner Moral, sondern allein auf Grund der ihm zuvorkommenden Gnade Gottes gerechtfertigt wird, folgt daraus, recht verstanden, die Entmoralisierung der christlichen Religion wie die Begrenzung der Moral in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft.
->   Alle Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Leben .  Gesellschaft 
 

 
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