Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben 
 
Bio- und Medizinethik 2002
Ein Jahresrückblick
 
  Die großen bioethischen Themen, die schon vor einem Jahr auf der politischen Tagesordnung standen, werden uns auch in näherer Zukunft weiter beschäftigen müssen. Das öffentliche Interesse an der bioethischen Debatte hat in den vergangenen Monaten allerdings merklich nachgelassen. Bioethik ist noch immer zu sehr einen Angelegenheit von Expertenzirkeln.  
Zur Erinnerung: Bioethik 2001
Das Auf und Ab der bioethischen Debatte in Österreich lässt sich gut an der österreichischen Bioethikkommission verfolgen, die Bundeskanzler Wolfgang Schüssel im Juli 2001 einberief. Damals war die internationale Debatte um die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen in vollem Gange.
->   Ulrich Körtner: Bioethik 2001 - ein Rückblick
Forschung an embryonalen Stammzellen
Während man z.B. in Deutschland heftig um den Import embryonaler Stammzellen stritt, fühlte sich Österreich von dieser Kontroverse zunächst nur am Rande berührt. Das sollte sich erst ändern, als in Brüssel die Verabschiedung des 6. Rahmenprogramms der EU zur Forschungsförderung 2002-2006 anstand. Denn dieses sieht die Finanzierung auch von Projekten mit humanen embryonalen Stammzellen vor. Dagegen wurden in Österreich Bedenken laut.
Erst Anfang 2002 begann die österreichische Bioethikkommission das Thema Stammzellforschung zu diskutieren, nachdem das zuständige Wissenschaftsministerium das Gremium um eine Stellungnahme zum 6. Rahmenprogramm gebeten hatte. Währenddessen wurde in Deutschland nach eingehender Diskussion ein Gesetz beschlossen, das den Import und die Verwendung humaner embryonaler Stammzellen regelt. Zur selben Zeit diskutierte die Schweiz bereits über ein Embryonenforschungsgesetz.
->   Deutsches Stammzellengesetz verabschiedet
->   Ulrich Körtner: Stammzellforschung in der Schweiz
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Der Streit um das 6. Rahmenprogramm der EU
In der österreichischen Bioethikkommission zog sich die Diskussion zum 6. Rahmenprogramm der EU über mehrere Monate hin. Anfang Mai 2002 wurde dann die erwartete Stellungnahme veröffentlicht, die freilich zu keiner einheitlichen Empfehlung kam. Während die Kommissionsmehrheit die Förderung von Forschungen mit embryonalen Stammzellen unter strengen Auflagen befürwortete, lehnte eine starke Minderheit jegliche Forschungsförderung für derartige Projekte ab.
->   Stellungnahme der Bioethikkommission zur Stammzellforschung
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Stammzellforschung: Moratorium der EU
Trotz ansderslautender Empfehlung der Kommissionsmehrheit votierte die österreichische Bundesregierung gegen das 6. Rahmenprogramm. Schließlich einigte man sich in Brüssel auf ein Moratorium in der Stammzellforschung bis Ende 2003. Arbeiten mit bereits existierenden Stammzelllinien sind davon allerdings ausgenommen.
Mit den Auseinandersetzungen um das 6. Rahmenprogramm fand die Stammzelldebatte in Österreich ihren vorläufigen Höhepunkt. Danach erlahmte das Interesse merklich. Auch die Bioethikkommission verfolgt das Thema eher zögerlich weiter, obwohl doch die internationale Forschung und Gesetzgebung rasant voranschreitet.
Der "gläserne Mensch"
Die Kommission hat sich seither anderen Themen zugewandt, so z.B. dem Thema des "gläsernen Menschen". Diskutiert werden seit dem Herbst 2002 die Chancen und Gefahren der Gendiagnostik, die durch die Chiptechnologie ganz neue Dimensionen annehmen.
Immerhin fand am 25. Oktober eine von der Bioethikkommission mit veranstaltete internationale Tagung zum Stand der Stammzellforschung statt. Die anwesenden Experten kamen zu dem einhelligen Ergebnis, dass neben der Forschung an adulten Stammzellen auch die Forschung an embryonalen Stammzellen weitergehen werde und für die Grundlagenforschung notwendig sei.
Neue Herausforderungen an das Gesundheitswesen
Spätestens der Wahlkampf drängte jedoch die bioethischen Themen ganz in den Hintergrund. Hier diskutierte man nur über gesundheitspolitische Themen, über Ambulanzgebühren und die künftige Finanzierung des Gesundheitswesens.
Dass auch die Biomedizin ganz neue Frage der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen aufwirft, ist einer breiten Öffentlichkeit noch gar nicht recht bewusst. Dabei werden Fortschritte um Bereich der Gendiagnostik und Gentherapie sowie der Stammzellforschung und -therapie schon bald zu einer neuen Verteilungsdiskussion führen:
Welche Finanzmittel sollen für die neuen Forschungsansätze bereitgestellt werden? Was werden neue Therapien kosten, wenn man sie flächendeckend anbietet? Kann es die neue Hochleistungsmedizin tatsächlich für alle geben? Oder verstärkt sie den Trend zur Zweiklassenmedizin?
Biopatente
Um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit geht es auch bei den Biopatenten, deren ethische Zulässigkeit sehr unterschiedlich beurteilt wird. Der politische Streit um die EU-Biopatentrichtlinie macht das deutlich.
Um nur einige der Streifragen zu nennen: In welchem Umfang soll Leben überhaupt patentierungsfähig sein? Kanada hat z.B. die Patentierung einer so genannten Krebsmaus abgelehnt. Sind Teile des menschlichen Genoms oder gar embryonale Stammzellen im Rahmen einer technischen Lehre patentierbar? Fördern Patente die Forschung oder behindern sie sie? Führen sie notwendigerweise zur Verteuerung von Diagnostik, Therapie und Medikamenten? Oder lässt sich mit Hilfe von Zwangslizenzen und Forscherprivilegien wirksam gegensteuern?
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Umstrittene Biopatentrichtlinie der EU
Die österreichische Bioethikkommission hat in ihrer Stellungnahme vom 6. März 2002 die nationale Umsetzung der Biotechnologie-Richtlinie der EU grundsätzlich befürwortet. Ihr Votum stieß jedoch bei der Umweltschutzorganisation Greenpeace auf Kritik. Auch die Österreichische Ärztekammer lehnt die Biopatentrichtlinie ab. Trotz grundsätzlicher Befürwortung durch den Ministerrat hat Österreich seither in dieser Frage noch keine weiteren Entscheidungen getroffen.
->   Stellungnahme der Bioethikkommission zur Biotechnologie-Richtlinie
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Biomedizinkonvention des Europarats
Die Ratifizierung der Menschenrechtskonvention zur Biomedizin des Europarats - kurz: Biomedizinkonvention - ist bislang nicht erfolgt. Bislang gibt es nur die politische Absicht, zu prüfen, inwieweit es bezüglich der Biomedizinkonvention in Österreich noch Gesetzeslücken gibt und wo in der heimischen Gesetzgebung höhere Standards definiert sind als in dem Menschenrechtsdokument. Vor allem Behindertenorganisationen und die "Ethikkommission FÜR die Bundesregierung" äußern gegenüber den Ratifizierungsplänen Bedenken, weil sie z.B. Verschlechterungen im Bereich des Verbotes fremdnütziger Forschung an nicht Zustimmungsfähigen befürchten.
->   Empfehlung der Bioethikkommission zur Ratifizierung der Biomedizinkonvention
->   Ethikkommission FÜR die Bundesregierung
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Fremdnützige Forschung
Die Bioethikkommission hat sich im Zusammenhang mit ihrer Empfehlung einer Ratifizierung dafür ausgesprochen, dass Thema der fremdnützigen Forschung umfassend zu diskutieren. Geschehen ist seither jedoch nicht viel. Wie so oft ist auch dieses Thema wieder sehr schnell aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden, obwohl es Experten seit langem auf den Nägeln brennt.
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Reproduktives Klonen
Zum Jahresende sorgte auch das Thema "Klonen" wieder einmal für Aufmerksamkeit. Der umstrittene italienische Gynäkologe Severino Antinori hat die baldige Geburt des ersten geklonten Menschen angekündigt.
->   Frauenarzt kündigt erstes Klon-Baby für Jänner an
Abgesehen von wissenschaftlichen Zweifeln an der Glaubwürdigkeit seiner Ankündigungen besteht international unter Wissenschaftlern und politisch breite Übereinstimmung in der Ablehnung des reproduktiven Klonens.
->   Menschen-Klon: Heftige Kritik an Antinori
"Therapeutisches" Klonen
Anders steht es dagegen mit dem Klonen zu Forschungszwecken, missverständlicherweise auch "therapeutisches Klonen" genannt. Im Dezember 2002 sorgte die Nachricht für Aufmerksamkeit, wonach die kalifornische Stanford-Universität embryonale Stammzellinien durch Klonierung herstellen will. In Europa ist es vor allem Großbritannien, welches Forschungen auf diesem Gebiet fördert, was die Mehrzahl der europäischen Staaten derzeit ablehnt.
->   US-Universität will menschliche Embryonen klonen
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Vorerst kein UN-Verbot des reproduktiven Klonens
Gescheitert ist dagegen vorerst der Versuch, das reproduktive Klonen von Menschen auf UNO-Ebene zu verbieten. Während sich die Mehrheit der Staaten bei der UN-Vollversammlung Ende November 2002 dafür aussprachen, die Fragen des so genannten therapeutischen Klonens auszuklammern, drängten die USA, Spanien und weitere Staaten, darunter der Vatikan, auf ein umfassendes Verbot des Klonens. Eine seriöse Debatte mit dem Thema steht in Österreich noch aus.

Österreichweit sorgten kurz vor Weihnachten Berichte über zwei Frauen aus der Steiermark für Diskussionen, die jenseits der Menopause dank einer im Ausland erfolgten Eispende bzw. einer Embryonenspende Kinder zu Welt gebracht haben. Ei- und Embryonenspende sind nach dem Österreichischen Fortpflanzungsmedizingesetz verboten.

Reproduktives Klonen, Ei- und Embryonenspende werfen folgende Grundsatzfrage auf: Wo liegen die ethischen Grenzen der "reproduktiven Autonomie"? Und wie lässt sich das Recht auf Fortpflanzung gegen das Kindeswohl der betroffenen Nachkommen abwägen? Die anstehende Novellierung des österreichischen Fotpflanzungsmedizingesetzes wird noch für einige Debatten sorgen.
->   Mutterfreuden mit 60: Gynäkologe Huber rät ab
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Ethik am Lebensende
Auch die ethischen Fragen am Lebensende standen 2002 weiter auf der internationalen bioethischen Tagesordnung. Nach den Niederlanden verabschiedete Mitte Mai auch Belgien ein Euthanasiegesetz, welches unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur die Tötung auf Verlangen, sondern auch den medizinisch assistierten Suizid straffrei stellt.
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Der Fall Pretty
Für Aufsehen sorgte ferner der Fall der Britin Diane Pretty, die beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erwirken wollte, dass ihr Mann straffrei ausgehen solle, falls er ihr Beihilfe zur Selbsttötung leiste. Frau Pretty litt unter der unheilbaren und tödlich verlaufenden Amyothrophischer Lateralskerose (ALS), die zu fortschreitender Lähmung führt. Die Klägerin war daher zur Selbsttötung physisch nicht mehr in der Lage. Der europäische Menschengerichtshof entschied jedoch, dass das Recht auf Leben (Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention) nicht das Recht auf Suizid oder der Tötung auf Verlangen einschließe.
->   Das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Pretty
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Das Euthanasiethema im Europarat
Auch der Europarat ist mit dem Thema Euthanasie befasst. Bereits im Juni 1999 verabschiedete die Parlamentarische Versammlung des Europarats eine Empfehlung zum Schutz der Menschenrechte von Todkranken und Sterbenden (Empfehlung 1418), die das recht einer Tötung auf Verlangen bestreitet. Inzwischen gibt es jedoch eine neue Initiative der Euthanasiebefürworter. Auch in Österreich wird man sich daher mit dem Thema weiter befassen müssen.
->   Empfehlung des Europarats 1418 (siehe unter Link "Download")
Bioethik und Öffentlichkeit
"Eine der wesentlichen Aufgaben im kommenden Jahr" - so lautete mein Resümee Ende 2001 - "sehe ich darin, die entsprechenden Öffentlichkeiten herzustellen und zu organisieren. Ethikkommissionen können den öffentlichen Diskurs nicht ersetzen, sondern ihm bestenfalls Impulse geben und ihn begleiten. Hier sind nicht nur die Medien gefragt, sondern auch die Wissenschaftler, welche sich der öffentlichen Debatte stellen müssen, und nicht zuletzt die Politik, welche Biopolitik nicht nur zu moderieren hat, sondern schließlich auch aktiv gestalten muss."
->   Ulrich Körtner: Politik des Lebens
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Politik des Lebens
Dem Zusammenhang von Bioethik und Biopolitik war eine hochkarätige Veranstaltung im Oktober 2002 gewidmet, die Univ.Prof. Dr. Herbert Gottweis vom Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien organisierte. Doch in der Praxis läuft die bioethische und biopolitische Diskussion in Österreich der internationalen Entwicklung hinterher. Insbesondere das Parlament und die Parteien haben das Thema Biopolitik im zu Ende gehenden Jahr eher stiefmütterlich behandelt.
->   Herbert Gottweis: Die neue Politik der Bioethik
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Eine weitere Kommission
Wohl nicht nur als Ergänzung, sondern auch als gewisse "Parallelaktion" zur Bioethikkommission des Bundeskanzlers wurde Ende November 2002 von der Stadt Wien ein neuer "Beirat für Bio- und Medizinethik" vorgestellt, dem 17 Mitglieder angehören, darunter auch mehrere Mitglieder der nationalen Bioethikkommission. Seine Themenpalette deckt sich mit derjenigen der Kanzlerkommission.
->   Neuer "Wiener Beirat für Bio- und Medizinethik"
Experten unter sich
Wie bei seiner Präsentation betont wurde, misst der Wiener Beirat für Bio- und Medizinethik der Arbeit in und mit der Öffentlichkeit große Bedeutung zu. Man darf auf die von ihm ausgehenden Diskussionsanstöße gespannt sein. An Ethikkommissionen mangelt es in Österreich jedenfalls nicht.

Noch mehr Kommissionen garantieren freilich nicht schon mehr Öffentlichkeit. Eher steht zu befürchten, dass die Expertinnen und Experten auch künftig weitgehend unter sich bleiben.
 
 
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben 
 

 
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