Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Leben .  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Was ist ein Embryo?
Der ethische Streit um embryonale Stammzellen geht in eine neue Runde
 
  Auf der Suche nach Alternativen zu embryonalen Stammzellen verzeichnen Forscher neue Erfolge. Die ethischen Probleme der Stammzellforschung sind deshalb keineswegs vom Tisch. Es tauchen sogar neue Fragen auf. Auch politisch bleibt die umstrittene Förderung der Embryonenforschung auf der Tagesordnung.  
Ein "Quantensprung der Bioethik"?
Für internationales Aufsehen sorgt eine Publikation von Professor Markus Hengstschläger in der angesehenen Fachzeitschrift "Human Reproduction" (Bd. 18., S. 1489-1493, Ausgabe vom 30. Juni). Hengstschläger, der an der Wiener Universitätsklinik für Frauenheilkunde tätig ist, und seine Forschergruppe haben pluripotente Stammzellen im Fruchtwasser entdeckt, die möglicherweise die gleichen Eigenschaften haben wie die Stammzellen von Embryonen. Deren Verwendung ist ethisch umstritten, weil zu ihrer Gewinnung menschliche Embryonen zerstört werden müssen.
->   Ethisch unbedenklich: Stammzellen aus dem Fruchtwasser
Sollten die nun von der Wiener Forschungsgruppe entdeckten Stammzellen tatsächlich ein ähnliches Potential wie embryonale Stammzellen aufweisen, würde dies nach Ansicht von Professor Hengstschläger "die Notwendigkeit, menschliche Embryonen als Quelle zu verwenden, ultimativ reduzieren".

Wohlgemerkt: reduzieren, nicht gänzlich überflüssig machen. Während der STANDARD in seiner Ausgabe vom 1. Juli 2003 schon einen "Quantensprung der Bioethik" titelte, warnte Hengstschläger selbst vor einem übereiltem Enthusiasmus. Auch in anderen Fällen scheint die Euphorie, wonach schon bald auf embryonale Stammzellen in der medizinischen Forschung gänzlich verzichtet werden könnte, verfrüht. Hengstschläger selbst rechnet mit einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren.
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Umstrittene EU-Förderung
Solange wird die Forschung aber nicht warten, weshalb es auch kaum überrascht, dass die EU-Kommission an ihrer umstrittenen Förderung der embryonalen Stammzellforschung festhält. Derzeit besteht zwar ein Moratorium, von dem freilich bereits existierende Stammzellinien ausgenommen sind. Ende des Jahres läuft dieses löcherige Moratorium aus.

Dass es zu einer nochmaligen Verlängerung kommt, gilt als unwahrscheinlich. Der von der EU-Kommission im April vorgelegte Zwischenbericht weist in eine andere Richtung. In diese bewegt sich auch der Kompromissvorschlag zur künftigen Förderung der Embryonenforschung, den die EU-Kommission für den 9. Juli angekündigt hat.
->   EU: Leitlinien für Stammzell-Forschung erst später
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->   EU-Bericht: Forschungschancen mit Stammzellen
Kein Ende der Debatte
Politisch wie ethisch bleibt die Frage, ob die Herstellung und Verwendung von embryonalen Stammzellinien moralisch vertretbar ist, also weiter auf der Tagesordnung. Wer glaubt, die verschiedenen Erfolgsmeldungen über Alternativen zu embryonalen Stammzellen würde eine politische Entscheidung überflüssig machen, der irrt oder macht sich und anderen etwas vor.

Überhaupt sollte man mit der Einstufung von Alternativen als "ethisch unbedenklich" vorsichtig umgehen. Aus den jüngsten Forschungsergebnissen lassen sich möglicherweise ganz andere Schlüsse ziehen als sie den Kritikern der Forschung an embryonalen Stammzellen lieb sind.
Was ist ein Embryo?
Bisher entzündete sich der bioethische Streit am ontologischen, moralischen und rechtlichen Status des Embryos. Ist jeder Embryo ein werdender Mensch mit Personwürde und uneingeschränktem Recht auf Leben oder - zumindest vor seiner Einnistung in der Gebärmutter - nur ein Zellhaufen, über den man nach Gutdünken verfügen darf? Aufgrund der neuen Forschungen stellt sich aber eine ganz andere Frage, nämlich: Was ist überhaupt ein Embryo?

Üblicherweise versteht man unter einem Embryo eine Zelle, die durch Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entstanden ist und sich zu einem vollständigen und lebensfähigen neuen Individuum entwickeln kann. Dass man eigentlich noch zwischen der befruchteten Eizelle (Zygote), dem Präembryo im Frühstadium der Zellteilung und dem Embryo nach mehreren Zellteilungen unterscheidet, wird in der ethischen Debatte meistens vernachlässigt.
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Sind vor dem Gesetz alle Embryonen gleich?
Das österreichische Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG) vermeidet übrigens den Begriff des Embryos und spricht gewunden von "entwicklungsfähigen Zellen". Im Sinne des Gesetzes sind entwicklungsfähige Zellen "befruchtete Eizellen und daraus entwickelte Zellen" (§ 1, Abs. 3).

Namhafte Rechtsexperten gehen davon aus, dass durch Zellkerntransfer entstehende Klone nicht unter diese Bestimmung fallen. Das z.B. in Großbritannien erlaubte "therapeutische Klonen", für dessen internationales Verbot sich Österreich, Deutschland und andere europäische Länder einsetzen, wäre demnach in Österreich selbst gar nicht ausdrücklich verboten, es sei denn, man will den Zellkerntransfer stillschweigend als eine Art der Befruchtung interpretieren.

Zu reproduktiven Zwecken ist das Klonen mittels Zellkerntransfer übrigens auch in Großbritannien verboten. Entwicklungsfähige Zellen, die zu therapeutischen Zwecken durch Klonierung gewonnen werden, gelten aber im Vereinigten Königreich nicht als Embryonen im Sinne des Gesetzes.
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Das Potentialitätsargument
Kritiker wenden ein, die britische Legaldefinition sei willkürlich. Ob eine entwicklungsfähige Zelle ein Embryo sei oder nicht, könne nicht am Merkmal der fehlenden Befruchtung einer Eizelle durch eine Samenzelle festgemacht werden, sondern einzig am Potential der Zelle, sich zu einem lebensfähigen Individuum entwickeln zu können. Dabei ist zwischen theoretischer Möglichkeit (engl. "possibility") und eigener Fähigkeit (engl.
"capacity") zu unterscheiden.

Die Entwicklungsfähigkeit hängt einerseits von den äußeren Umständen ab - also vor allem von der Einnistung in eine Gebärmutter und dem weiteren Verlauf der Schwangerschaft -, anderseits aber auch von dem Entwicklungspotential, das der befruchteten Eizelle oder dem Klon selbst innewohnt.

Der Streit um den ontologischen und moralischen Status von Embryonen und Klonen dreht sich unter anderem darum, was ethisch den Ausschlag geben soll: die äußeren Umstände ("possibility") oder das immanente Entwicklungspotential ("capacity"). Wer für letzteres plädiert, wird allen Klonen, die durch Zellkerntransfer entstehen, den Status eines Embryos zubilligen. Ob die Zielsetzung das "therapeutische" oder das "reproduktive" Klonen ist, spielt dann keine Rolle.
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Stammzellgewinnung durch "therapeutisches" Klonen
Die Frage, was überhaupt ein Embryo ist, ist nun für der Beurteilung der ethischen Bedenklichkeit oder Unbedenklichkeit des "therapeutischen" Klonens von erheblicher Bedeutung. Befürworter dieser Methode, pluripotente Stammzellen zu gewinnen, sehen in ihr eine "ethisch unbedenkliche Alternative" zur Herstellung embryonaler Stammzellen.

Die Kritiker dagegen erheben den Vorwurf, dass beim therapeutischen Klonen ebenfalls Embryonen vernichtet würden, was lediglich durch einen semantischen Trick verschleiert würde. Aus ethischer Sicht sei das therapeutische Klonen sogar noch verwerflicher als die Zerstörung von "überzähligen" Embryonen, die bei der In-Vitro-Fertilisation anfallen, weil nun nämlich Embryonen ausschließlich zu Forschungszwecken hergestellt würden. Das sei eine schlimmere Form der "Totalinstrumentalisierung" von Embryonen als die Zerstörung "überzähliger" Embryonen, die eigentlich nicht zu Forschungs-, sondern zu Fortpflanzungszwecken erzeugt wurden.
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"Ethisch unbedenkliche" Alternativen?
Schon das Beispiel des "therapeutischen" Klonens zeigt also, dass man mit der Behauptung, es gebe zur Herstellung und Verwendung embryonaler Stammzellen eine "ethisch unbedenkliche" Alternative, vorsichtig sein muss. Aber auch dies muss gesehen werden: Alternative Verfahren zur Herstellung von embryonalen oder diesen zumindest vergleichbaren Zellen haben Rückwirkungen auf die ursprüngliche Streitfrage, wann menschliches Leben, genauer gesagt das Leben eines neuen Menschen, beginnt.

Die Kirchen, insbesondere die römisch-katholische Kirche, mögen neue Hoffnung schöpfen, ihre Position in der Frage des Lebensanfangs doch noch politisch durchsetzen zu können. Die jüngsten Meldungen über neue Methoden der Stammzellgewinnung werden jedoch die ethische Diskussion über embryonale Stammzellen keineswegs zum Verstummen bringen, sondern im Gegenteil dazu führen, den besonderen Status von Embryonen, die durch Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entstehen, weiter in Frage zu stellen. Zumindest die lehramtliche Position der römisch-katholischen Kirche wird dadurch vermutlich weiter unter Druck geraten.
Stammzellen aus Jungfernzeugung
Im April wurde berichtet, dass es Forschern in den USA erstmals gelungen sei, menschliche embryonale Stammzellen durch "Jungfernzeugung" (Parthenogenese) herzustellen. Dabei wurden Eizellen ohne Befruchtung dazu gebracht, sich bis zu einem frühen embryonalen Stadium zu entwickeln. Ihren Befürwortern gilt diese Methode als ethisch unbedenklich, weil sich die durch Parthenogenese entstehenden Embryonen nach derzeitigem Kenntnis stand nicht zu lebensfähigen Menschen entwickeln können.
->   Embryonale Stammzellen erstmals durch Jungfernzeugung
Die interessante Frage lautet nun aber, weshalb diese entwicklungsfähigen Zellen nicht als Embryonen bezeichnet werden sollen. Dass sie sich nach derzeitigem Wissensstand nicht für eine erfolgreiche Schwangerschaft eignen, ist kein hinreichender Grund. Denn in natürlicher Umgebung sterben auch von befruchteten Eizellen ca. 70 Prozent ab. Allen befruchteten Eizellen die "capacity" zur Menschwerdung zuzusprechen, lässt sich in dieser Pauschalität offensichtlich nicht stichhaltig begründen, sondern basiert auf einem metaphysischen oder dogmatischen Vorurteil.
Eizellen aus Stammzellen
Noch verwirrender wird die ganze Angelegenheit durch Experimente, von denen kürzlich die Zeitschrift "Science" berichtet hat. Demnach ist es Wissenschaftlern bei Mäusen gelungen, aus embryonalen Stammzellen künstliche Eizellen herzustellen. Angeblich funktioniert diese Methode nicht nur bei weiblichen, sondern auch bei männlichen embryonalen Stammzellen.

Nun ist es zugegebenermaßen von der Maus zum Menschen noch ein großer Schritt. Aber schon jetzt erscheint es ratsam, die Gewinnung menschlicher Eizellen aus embryonalen Stammzellen im Gedankenexperiment durchzuspielen.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass auch die Erzeugung von Eizellen aus embryonalen Stammzellen die Zerstörung von Embryonen voraussetzt. Schon deshalb kann man diesen Weg nicht im Ernst für ethisch unbedenklicher als die bisherige Methode zur Gewinnung embryonaler Stammzellen halten. Weshalb sollte man dann also nicht gleich embryonale Stammzellen durch Zerstörung "überzähliger" Embryonen gewinnen, statt einen komplizierten Umweg zu beschreiten?
Elternlose Kinder?
Interessant sind aber die Konsequenzen, die die neue Methode der Eizellenerzeugung für die Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens hat. Margot von Renesse, die frühere Vorsitzende der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" des deutschen Bundestages hatte in der Stammzelldebatte erklärt, Embryonen seien "die künftigen Kinder künftiger Eltern". Wenn aber menschliche Eizellen - und eines Tages vielleicht auch Samenzellen? - aus embryonalen Stammzellen gewonnen, befruchtet werden und sich am Ende gar bis zur Geburt entwickeln könnten, wer wären dann die Eltern?

Gesetze zum Schutz von Embryonen wie das deutsche Embryonenschutzgesetz oder das österreichische Fortpflanzungsmedizingesetz gehen noch selbstverständlich davon aus, dass Embryonen auch außerhalb des Mutterleibes in einer Beziehung zu (künftigen) Eltern stehen. Diese Beziehung kann freilich schon jetzt nur solange angenommen werden, wie die Absicht oder die Möglichkeit besteht, dass die in vitro befruchtete Eizelle einer Frau implantiert wird (und zwar nach österreichischem Recht nur derjenigen Frau, von der die Eizelle stammt, d.h. der leiblichen Mutter).

Wenn aber eine solche Beziehung im Fall von Eizellen, die aus embryonalen Stammzellen gewonnen würden, gar nicht erst besteht, gewinnt auch das Argument derer, die die Gewinnung von Stammzellen aus "überzähligen" Embryonen u.a. deshalb für ethisch zulässig halten, weil bei ihnen keine Eltern-Kind-Beziehung mehr besteht, an Gewicht.
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Biblische Argumente in der bioethischen Debatte
In ihrer Denkschrift zu Fragen der Bioethik "Verantwortung für das Leben" spricht die Evangelische Kirche in Österreich von der "Unbestimmtheit des Lebensanfangs". Diese Formulierung entspricht zum einem der biblischen Tradition, welche das Werden eines neuen Menschen als Prozess begreift. Sie wird andererseits durch die jüngsten Forschungen auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin und der Stammzellforschung bestätigt.

Theologische Aussagen über die Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen und biologische Beschreibungen von Zeugung und Zellteilung müssen nicht nur aus erkenntnistheoretischen, sondern auch aus theologischen Gründen auseinandergehalten werden. Wer den technischen Vorgang einer Befruchtung im Reagenzglas mit der Erschaffung eines Menschen gleichsetzt, begeht einen biologistischen Fehlschluss, der zu der Konsequenz nötigt, dass nun der Mensch faktisch anstelle Gottes zum Schöpfer erklärt wird. Dass der Mensch durch die technischen Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin zum Schöpfer werden kann, ist keine reale Möglichkeit, sondern lediglich eine theologische Fehldeutung als Folge biologistischer Kurzschlüsse.

Gerade wenn der Mensch auch künftig als Geschöpf Gottes gesehen werden soll, muss jede Überbetonung der biologischen Dimension des Lebensbeginns vermieden werden. Die neue Unübersichtlichkeit in der Frage, was denn überhaupt ein Embryo ist, kann als Bestätigung dieser These aufgefasst werden.
->   Ulrich Körtner: Verantwortung für das Leben. Evangelische Kirche veröffentlicht Denkschrift zur Biomedizin
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Die Grundsatzfragen bleiben
Von einem "Quantensprung der Bioethik" (DER STANDARD) kann also keine Rede sein. Vielmehr geht der Streit um die Gewinnung und Verwendung humaner embryonaler Stammzellen in eine neue Runde. An der Grundfragen hat sich nichts geändert. Sie werden nur komplexer, was man im Grunde schon vorher wissen konnte. Einfacher wird die bioethische Debatte durch vermeintlich "ethisch unbedenkliche" Alternativen zur herkömmlichen Gewinnung embryonaler Stammzellen wohl nicht.

Ethische Diskussionen lassen sich freilich nur führen, wenn man auch zu einer gewissen Komplexitätsreduktion bereit ist und lernt, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Solche Komplexitätsreduktion unterscheidet sich gerade von der fahrlässigen Vereinfachung. Gerade wer alles zu kompliziert macht, macht es sich zu einfach.
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Buchtipp
Reiner Anselm/Ulrich H.J. Körtner (Hg.), Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung. Mit einer Einführung von Trutz Rendtorff, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, EUR 30,80
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ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Leben .  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 

 
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