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Cyber-History: Verändert sich die Geschichte im Netz?  
  Die Weltgeschichte wandert zusehends ins Internet. Immer mehr Dokumente werden digitalisiert. Das historische Erbe der Menschheit bekommt durch das Netz eine völlig neue Aktualität, weil es Expertenwissen für alle verfügbar macht. Aber es gibt auch heftige Kritik an diesem Trend.  
Das Projekt ''Archimedes''
Das umfassendste und ehrgeizigste Projekt in der EU ist das Projekt "Archimedes". Jürgen Renn vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte will die Geschichte der Mechanik dokumentieren. "Wir nutzen die neuen Möglichkeiten des Internets hier auf innovative Weise. Erstmals ist es möglich, Forschung direkt mit den Quellen zu verknüpfen", sagt Renn.

Millionen von historischen Texten und Bildern über Kultur und Sprachgrenzen sollen erfasst werden. Die Geschichte der Mechanik bietet sich für die Digitalisierung besonders gut an: sie greift in die chinesische, arabische, griechische Kultur und verläuft über die Antike, das Mittelalter, die Neuzeit bis in die Moderne.

"Wir können hier die langfristige Entwicklung von Wissen erforschen. Und alle Quellen einbeziehen. Texte und Bilder, Artefakte und Pläne: das war ohne das Internet bisher kaum möglich", sagt Renn.
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Mühsame Archivreisen nicht mehr nötig
Vorbild war das Projekt "Galileo Galilei". Forscher entdeckten bisher kaum beachtete Manuskripte vom Charakter der Leonardo Manuskripte: Skizzen, Rechnungen, Bemerkungen über die Mechanik.

"Man findet diese Manuskripte in höher Qualität im Internet. Dort kann man nach Schlüsselbegriffen suchen. Das ist eine völlig neue Zugangsweise zu Archivmaterial", sagt Renn. "Außerdem können dadurch Forscher ihre Ergebnisse international austauschen und am Netz diskutieren." Das Wissen komme so aus dem "Informationshinterland" - den Schreibtischladen der Forscher - hervor.
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Forschung ohne Sprachkenntnisse
Zweites Vorläuferprojekt war das "Perseus"-Projekt" vom Department of Classics der Tufts University. Hier werden Texte der griechischen und altgriechischen Literatur sowohl im griechischen Original als auch in der englischen Übersetzung verfügbar gemacht. Und zwar mit einer Lexikon-Technologie, die ein Lesen auch ohne Sprachkenntnisse ermöglicht.

Kritik kommt von Fritz Krafft von der Universität Marburg, der dadurch falsche Interpretationen fürchtet. "Man braucht für die Forschung neue Ideen, nicht nur neue Tools", kritisiert auch John Heilbron von der Oxford University in einem Artikel in "Nature".
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Mittelalterliches im Netz
Per Mausklick kann man auch ins Mittelalter reisen. Ein Projekt der Universität Heidelberg stellt die Handschriften der Bibliotheca Palatina ins Netz. Auch Walther von der Vogelweide findet sich schon in der "virtuellen Forschungsbibliothek" - das wertvolle Original des Codex Manesse ist nun jedermann zugänglich.
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Der Kalte Krieg geht weiter
Doch man darf sich von diesen Beispielen nicht täuschen lassen. Europäische Geschichte macht nur einen verschwindend geringen Teil der Inhalte im Internet aus. Das Internet ist von amerikanischen Seiten dominiert.

Reinhold Wagnleitner, der an der Universität Salzburg das Projekt "Geschichte@Internet" leitet, meint, das führe zur Amerikanisierung der Weltgeschichte. "Wir haben uns angesehen, was online zum Kalten Krieg zugänglich ist: 90 Prozent der qualitativ hochwertigen Infos sind ausschließlich in englischer Sprache. Die Dominanz im Internet ist also noch stärker als wir das schon bei Buchpublikationen kennen. Online haben die Vereinigten Staaten den Kalten Krieg auf jeden Fall gewonnen!"
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Kommerzialisierung der Vergangenheit
Diese Amerikanisierung bringt auch einen neuen Umgang mit der Geschichte mit sich: Infotainment und Kommerzialisierung setzen sich durch. Die Produktionen von History Channel in den USA zum Beispiel verfolgen jede Woche rund 30 Millionen Zuseher.

"Nicht mehr Harvard entscheidet, was Geschichte ist, sondern die amerikanische Öffentlichkeit", sagt Wagnleitner. "Wirtschaftliche Interessen bestimmen die Themen der Sendungen und sicher bald auch der Internetbeiträge. Das führt schlussendlich zu einer Themenverschmälerung."
->   History Channel
Hauptkritikpunkt Quellen
Wie soll man im Internet überprüfen, ob die Quelle authentisch ist? Das ist das Hauptproblem des neuen Digitalisierungstrends. Fälschungsmöglichkeiten sind im Cyberspace noch leichter als in anderen Medien. "Die Geschichte übernimmt hier die Rolle eines Warnrufers und muss die Inhalte relativieren", sagt Wagnleitner. Das ist aber nicht die einzige Rolle, die die Historiker in Zukunft übernehmen müssen.

Sie werden zu Archivaren der Zeitgeschichte. Erwin Giedenbacher vom Institut für Geschichte der Universität Salzburg erfasste sämtliche Websites, die die verschiedenen Interessensgruppen während des Kosovo-Kriegs ins Netz stellten. "Das Internet ist ein flüchtiges Medium und in diesem ersten Internet-Krieg, dessen Informationsaustausch vor allem über das Internet lief, spielte das Medium eine besondere Rolle", meint Giedenbacher.
Historiker als Hacker
"Historiker werden zu Hackern im positivsten Sinn", meint Wagnleitner. "Sie sind keine Zerstörer, sondern klären die Öffentlichkeit über Dinge auf, die schwer zu recherchieren sind und kommen an versteckte Dokumente. Diese Rolle hatten die Historiker ursprünglich schon in der Antike. Ganz neu ist die Entwicklung also nicht", so der Historiker und science.orf.at-Autor Reinhold Wagnleitner.


Ulrike Schmitzer, Ö1-Wissenschaft
 
 
 
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01.01.2010