News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit .  Gesellschaft 
 
''Ich war immer auf der Seite der Schwachen''  
  Am 27. April wäre der österreichische Psychiater und Individualpsychologe Erwin Ringel 80 Jahre alt geworden. Er galt als "Seelendoktor der Nation", seine pointierten Aussagen haben sich aber nicht nur auf die Medizin beschränkt.  
Immer wieder hat er auch zu aktuellen politischen und weltanschaulichen Themen Stellung bezogen - wie etwa Hainburg, 1938, Minderheiten oder Neofaschismus. Ein "Ringel zu jeder Gelegenheit" wollte er aber keinesfalls sein.
Lebenslanges Engagement
Bereits in der Mittelschule hatte sich Ringel in der katholischen Jugendbewegung engagiert. 1938 war für ihn klar, dass er dem Hitler-Regime nur mit Opposition begegnen könne. Aus diesem Grund wurde er 1939 von der Gestapo vorübergehend festgenommen.
...
Gefährliche Aussagen
"Ich hatte einen heiligen Eid abgelegt, für Hitler keinen Schuss abzugeben", erinnerte sich Ringel, der im Zweiten Weltkrieg einer Wiener Sanitätstruppe zugeteilt worden war. 1943, "in einem Anfall von Wahnsinn", habe er das Gewehr zu Boden geworfen und Hitler als einen Psychopathen bezeichnet, dem man nicht folgen dürfe.

Die beiden Mediziner, die daraufhin mit der Psychiatrierung Ringels betraut wurden, waren jedoch im Widerstand tätig. Ihnen hatte er es zu verdanken, dass er schließlich wegen "Schilddrüsen-Überfunktion" aus der Armee ausgeschieden ist.
...
Ausbildung zum Psychologen
Aus der Wehrmacht entlassen, studierte Ringel Medizin. Nach der Promotion 1946 war er an der Wiener Universitätsklinik tätig. Hier hat er auch seine Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie abgeschlossen.
Arbeit in der Suizid-Prävention
Bild: APA
Bereits unmittelbar nach Kriegsende hat er damit begonnen, sich mit dem Thema Selbstmord auseinander zu setzen: "Für mich gab es als Katholik eine unerhörte Diskrepanz. Selbstmörder waren für mich die ärmsten Menschen. Und dazu wurden sie auch noch von der Kirche verfolgt, durch die Verweigerung des Begräbnisses."

1948, bei der Durchsicht der Krankengeschichten von 745 selbstmordgefährdeten Patienten, fielen Ringel Gemeinsamkeiten auf. In der Folge formulierte er das "präsuizidale Syndrom" und begann mit dem Aufbau des Wiener Kriseninterventionszentrums, einer Betreuungsstelle für Suizid-Gefährdete.
...
Das präsuizidale Syndrom
- gefühlsmäßige Einengung
- stark reduziertes Selbstwertgefühl
- Gefühl des Getrieben-Werdens
- der Gefährdete glaubt, immer allein zu sein
- ungeheure Wut und Erbitterung, die nach außen nicht abreagiert werden können
- Aufbau von Scheinwelten
- letztendlich der Versuch, per Selbstmord in genau eine solche Scheinwelt zu entkommen
->   Die von Ringel gegründete "International Association for Suicide Prevention
...
Der fehlgeleitete Patient
Neben der Selbstmordverhütung hat sich der Wiener auch jahrzehntelang mit der Psychosomatik befasst und mit der Studie "Der fehlgeleitete Patient" für Aufsehen gesorgt.

Ringel hat darin nachgewiesen, dass in Österreich Kranke oft jahrelang von einem Facharzt zum andern geschickt werden, bis sie letztendlich Hilfe bei einem entsprechend ausgebildeten Psychosomatiker erhalten.
Die österreichische Seele
Ringel hat das Schicksal des Einzelnen immer im Zusammenhang mit der Gesellschaft betrachtet. "Da gibt es in der Psychotherapie eine Strömung, die besagt, dass man sich nur dem Einzelpatienten widmen soll. Dann gibt es eine andere Auffassung, die sagt 'Was behandelt Ihr einzelne Leute, revolutioniert die Gesellschaft'. Ich glaube, man muss beides tun."

Ringel hat diesen Ansatz zu jenem Buch verarbeitet, das ihn auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht hat: "Die österreichischen Seele. Zehn Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion" (Europa Verlag, München). Damit hat er nicht nur zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, sondern auch in den Folgejahren für teilweise heftige Diskussionen gesorgt.
...
Neurotische Österreicher
In Österreich seien durch die starken hierarchischen Strukturen mehr Leute neurotisiert als in anderen Ländern, lautete Ringels Fazit 1984. Der Doppelrolle des Staates als Opfer und Täter zwischen 1938 und 1945 komme ebenfalls große Bedeutung zu. "Ich würde mir wünschen, dass die ehemaligen Soldaten vor sich selbst hintreten und sagen: Ich habe damals Befehle befolgt, denen ich nicht gehorchen hätte dürfen", meinte Ringel.
...
Viel erreicht
1991, zu seinem 70. Geburtstag, zog Ringel eine positive Bilanz. Viele seiner Anliegen habe er durchsetzen können oder ihnen zumindest über Bücher, Vorträge oder mit Interviews Öffentlichkeit verschafft. "Als Sisyphus für Österreich bin ich jedoch verpflichtet, noch mehr zu erreichen", meinte er.

Am 28. Juli 1994 ist der Psychiater während eines Urlaubes in Bad Kleinkirchheim an Herzversagen gestorben. Er wurde in einem Ehrengrab der Stadt Wien auf dem Zentralfriedhof beigesetzt. Um die Fortsetzung seines Lebenswerks kümmert sich die im Dezember 1995 ins Leben gerufene "Erwin-Ringel-Stiftung".

Johannes Stuhlpfarrer
->   Vorlesungen von Erwin Ringel (Audio)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit .  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010