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Lebens-Mittel - Genuss-Mittel?  
  Dient das tägliche Brot nun der bloßen Sättigung (ein Lebensmittel) oder ist es eine potentielle Quelle der Freude und des Genusses - ein Genussmittel also? Keine leichte Frage, auch nicht für jene Experten und Expertinnen, die das vierte und letzte Panel zur "Zukunft des Genießens im Zeitalter der Globalisierung" der ORF-Enquete "Lebens-Mittel" am Donnerstag bestritten.  
Jahrelanges Kochen

Susanne Scharnhorst, A.C. Nielsen Österreich, Wien
Susanne Scharnhorst vom Marktforschungsinstitut A.C. Nielsen führte zur ersten Annäherung an die Frage eine Studie ihres Instituts ins Feld: Daraus geht hervor, dass die Österreicher und Österreicherinnen sehr wohl genussorientierte Menschen sind: durchschnittlich 6,5 Jahre ihres Lebens verbringen sie allein mit der Zubereitung ihrer Mahlzeiten - ungeachtet der Zeit, die für das Schreiben von Einkaufszetteln, Einkauf und (hoffentlich) Verzehr benötigt wird.
Vom Niedergang der Sitten

Wolfram Siebeck, Autor und Gourmet-Kritiker, DIE ZEIT, Hamburg
Ob diese 6,5 in der Küche verbrachten Jahre tatsächlich dem Genuss dienlich sind, mag man bezweifeln. Zum mindesten aber widerspricht dieses Ergebnis der These einer zunehmenden Verwahrlosung der Esskultur, die Wolfram Siebeck, Genussexperte der "Zeit", ausgemacht haben will.

Fastfood, Fertiggerichte und Billigstangebote in den Supermarktregalen hätten nicht nur den regionalen Küchen den Garaus gemacht, sondern auch die europäischen Zungen durch die Verwendung von Geschmacksverstärkern desensibilisiert.
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Hausmannskost
Derartige Manipulationen bereits der kindlichen Geschmacksnerven wird man der steirischen Gastwirtin Vroni Stocker wohl kaum unterstellen können: In ihrem Gasthaus bietet sie jene Speisen täglich frisch an, die die Österreicher und Österreicherinnen nach der bereits zitierten Nielsen-Studie am meisten schätzen und auch am häufigsten genießen: Österreichische Hausmannskost. Also Knödel statt Pommes, einen guten Braten mit Saft statt Hamburger mit Ketchup.
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Uniformität ist nicht langweilig
Polarisierungen dieser Art liegen dem Managing Direktor von McDonalds Österreich, Martin Knoll, fern. Er erinnerte an den Untertitel des Panels ("Essen - individuell oder uniform?") und hatte auch gleich eine ebenso schlichte wie betörende Antwort parat: beides.
Gebratene Planwirtschaft

Martin Knoll, Managing Director McDonald's Österreich, Wiener Neudorf
Individuelles Essen sei durchaus eine sinnliche Erfahrung und als solche ein Genuss: Das nach einer langen Bergtour verschlungene Butterbrot überträfe, so erzählte Knoll, hinsichtlich der Sinnenfreude mitunter das fünfgängige Menü des Haubenkochs, das nach einem langen, im Sitzen verbrachten Arbeitstag zu sich genommen wird.

Kurz: Individueller Genuss ist ohne Disziplin nicht zu haben. Gerade deshalb sei ein Angebot wie jenes von McDonalds heute so sinnvoll wenn schon nicht sinnlich: Der zeitbeschränkte Mensch des 21. Jahrhunderts braucht eine gewisse Erwartungssicherheit. Bei McDonalds bekommt er sie in Form der immer gleichen Hamburger.
Ohne Bauern geht es nicht

Heinz Reitbauer, Gastronom, Steirereck, Wien
Eine gute Vorlage für den Kalauer von Heinz Reitbauer vom edlen "Steirereck" in Wien: "Zehn Mal Big Mac und dann ab ins Steirereck", reimte er, um gleich darauf die mangelnde Qualität des Fleisches aus Massentierhaltung zu beklagen. Genuss also für ihn eine Potentialität, die bei der Produktion der Zutaten einer Speise beginnt.

Ob nun McDonalds oder das Steirereck: Hier kann nichts schief gehen, wer einen Hamburger bestellt, bekommt auch einen, wer sich im Steirereck gepflegt verwöhnen lassen möchte, wird gewiss nicht enttäuscht. Wer sich allerdings selbst einen Rollbraten zubereitet, bekommt nur möglicherweise einen Rollbraten. Aber: Es ist alles möglich, das "individuelle" wie auch das "uniforme" Essen. Was aber ist mit dem Genuss?
Kann Tafelspitz Sünde sein?

Hanni Rützler, Ernährungswissenschaftlerin, Wien
Genuss muss man lernen, erklärte die Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler. Und die emotionale Verknüpfung von Gesundheit und Genuss erst recht.

Eine katholische Tradition wie die österreichische macht es einem da nicht gerade leicht, gilt doch der Genuss nicht selten als Sünde und umgekehrt die Sünde als Genuss.

Hartnäckige Kopplungen dieser Art sind aber nicht das Problem, so Rützler. Vielmehr müssten die Konsumenten erst lernen, verantwortlich mit der Flut an Informationen über die annähernd 20.000 Lebensmittel, die in den Supermärkten angeboten würden, umzugehen. Oft genug sei die Qualität eines Lebensmittels nicht ersichtlich und der Kunde den Produktinformationen auf der Packung einfach ausgeliefert.
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Üben, üben, üben
Hanni Rützler empfahl daher als eine erste Maßnahme, den eigenen Geschmack zu trainieren, sich ernst zu nehmen und auch den kindlichen Gaumen an möglichst naturnahen Lebensmitteln zu schulen. Für den erwachsenen Gaumen vielleicht reizvoller sind die Wein- und Käseseminare des "Käse Clubs Österreich", die das Vorstandsmitglied des Agrarmarkt Austria, Stephan Mikinovic, zur Genussschulung empfahl.
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Erdbeeren aus der Sprühdose

Stephan Mikinovic, Vorstand Agrarmarkt Austria, Wien
Im Übrigen sei die Vielfalt angebotener Lebensmittel dem Genuss geradezu abträglich, so Mikinovic, denn neben Disziplin verlange dieser auch Verzicht oder - freundlicher formuliert: Vorfreude. Die Abwesenheit derselben sei insbesondere bei Obst und Gemüse augenfällig.

Schon lang sind diese Produkte nicht mehr saisongebunden: Erdbeeren, Weintrauben und Orangen sind ganzjährig zu haben, eingeflogen aus allen Teilen der Welt.

Zu den damit verbundenen Transportwegen wusste Mikinovic auch gleich eine Beobachtung aus den USA zu erzählen: Dort sei man dazu übergegangen, die transportgereiften Erdbeeren mit Geschmacksspray (flavour spray) zu besprühen, weil sie nach nichts mehr oder jedenfalls nicht nach Erdbeeren schmeckten.
Das Verschwinden der Tische

Vroni Stocker, Gastwirtin, Furth, St. Peter ob Judenburg, Stmk.
Genuss hat also vielleicht etwas mit Geschmack zu tun und so zeitigt die Globalisierung doch auch gewünschte Folgen: In den letzten Jahren ist die österreichische Gastronomie durch ausländische Kochkünste außerordentlich bereichert worden. Insbesondere die italienische Küche erfreut sich anhaltender Beliebtheit.

Es muss nicht mehr gegessen werden, was traditionellerweise auf den Tisch kommt - sofern es noch auf den Tisch kommt, denn der "Tisch" hat gute Chancen, das Symbol einer untergehenden Esskultur zu werden: Der moderne Mensch genießt immer häufiger "zwischendurch" und schweigt - muss schweigen, weil er allein ist.

Der gemeinsame Mittagstisch, an dem sich die Familienmitglieder träfen, um gemeinsam zu essen und miteinander zu reden, gehöre so gut wie der Vergangenheit an, darin waren sich fast alle Experten einig. Vroni Stocker fand für dieses traurige Phänomen eine treffende Umschreibung: Unter diesen Bedingungen gerät das Essen zu einer "Energiezufuhr unter Stress". Von Genuss, Sinnlichkeit und Lust keine Spur.
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Der Mensch isst, wenn er Zeit hat
Es sei die Arbeit, nicht mehr die Regelmäßigkeit der Mahlzeiten, die den Alltag der Menschen strukturiere, argumentierten Rützler und Scharnhorst unisono. Und: Das Rad der Geschichte ließe sich nicht mehr zurückdrehen. Der rückwärtsgewandte Blick auf die vermeintlich heile (Familien-)Welt am fröhlichen Rund des Mittagstisches sei verklärend und nicht zeitgemäß. Vielmehr müssten Mittel und Wege gefunden werden, auch das urbane, hektische Leben sozial und gesund zu gestalten, es könne schließlich nicht sein, dass Berufstätigkeit und Genuss sich ausschließen.
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Genuss - ein Politikum?
Zumindest der männlichen Bevölkerung ist ein möglicher Konflikt zwischen beidem lange unbekannt gewesen. Und auch wenn sich die Dinge ändern: Es sind noch immer die Frauen, denen besondere Verantwortung als Konsumentinnen aufgebürdet wird, gerade in den Zeiten der sogenannten Lebensmittelkrisen.

Landwirtschaftsminister Wilhelm Molterer bat in seinem Schlusswort zur Enquete denn auch darum, den Konsumenten/die Konsumentin nicht zu überfordern. Es sei die erste Aufgabe der Politik, den Marktgesetzen entgegenzusteuern und damit wohl auch den Weg für Genuss und Sinnlichkeit zu ebnen.

Allerdings wird dies auch seinen Preis haben, so lautet wohl ein Ergebnis der Enquete: Hochwertige Lebensmittel aus biologischem Anbau sind einfach teurer als Lebensmittel aus industrieller Massenproduktion.

Und damit wird es wohl nichts mit dem Leitspruch der Erna aus Werner Schwabs Drama "Die Präsidentinnen": "Grad' beim Essen kann man soviel spar'n." Beim Essen vielleicht, beim Genießen jedenfalls nicht.

Cathren Müller
Weitere Berichte über die ORF-Enquete "Lebens-Mittel: Trends in der Produktion, im Handel und im Konsum":
->   Die Zukunft der Ernährung
->   Der Wert der Lebens-Mittel
->   Strategien zur Lebensmittelsicherheit
->   Ist der Kunde noch König?
 
 
 
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01.01.2010