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Lebens-Mittel: Die Krise als Chance  
  Die fundamentale Krise der Landwirtschaft ist zugleich eine Chance, um Rationalisierungsdruck, Massenproduktion und Sucht nach Billigangeboten zu entkommen. Das meinte zumindest Wolfram Siebeck anlässlich der ORF-Enquete "Lebens-Mittel" am vergangenen Donnerstag. Ein Originalbeitrag des Gourmet-Kritikers der "ZEIT".  
Wolfram Siebeck: Die Krise muss Folgen haben
Die derzeitige Misere in der Landwirtschaft, die Panik der Verbraucher vor den Fleischtheken, das allgemeine Misstrauen gegenüber Politikern, Funktionären, Nahrungsmittelkonzernen und Wissenschaft wird eine Krise genannt. Ich kann nur hoffen, dass es eine Krise ist, eine Krise wie ein Erdbeben, das niemanden ungestört lässt.

Diese Krise hat Folgen, und sie muss sie auch haben. Vieles, was vorher war, soll für immer verschwinden: die Sünden der Bauern, die Dummheit der Funktionäre, die Geldgier des Handels und die Feigheit der Politiker - davon sollte kein Stein mehr auf dem anderen bleiben. Sonst hätte die Krise keinen Sinn.

Dass Krisen durchaus segensreich sein können, weiß man gerade hier in Österreich. Der Glykolskandal von 1985 war eine Krise größten Ausmaßes für den Weinbau, der danach für immer ruiniert schien. Doch heute genießt der österreichische Wein weltweit ein so großes Ansehen wie nie zuvor.
Erzübel Rationalisierungswahn
Das könnte auch das Schicksal der europäischen Landwirtschaft sein. Dazu bedarf es allerdings nicht nur radikaler Veränderungen in der Agrarpolitik. Der Rationalisierungswahn mit seiner zwangsläufigen Massenproduktion muss als das Erzübel erkannt werden, das wie eine Seuche jede Qualität der Nahrungsmittel verhindert.

Die Einzelheiten zu beschreiben, die dazu geführt haben, ist nicht nötig. Jeder, der sich informieren wollte, hatte in den letzten Monaten Gelegenheit genug, die unappetitlichen Details kennen zu lernen.
Sucht nach Billigangeboten
Kein einzelnes ist wie ein Naturereignis über die Konsumenten gekommen. Alle Katastrophen sind hausgemacht.

Die hunderttausend abgeschlachteten Rinder, die exekutierten Schafe, die brennenden Schweine - und was sonst alles dem Irrsinn der Funktionäre zum Opfer fiel - sie sind einem gemeinsamen Virus erlegen: der Sucht des Konsumenten nach dem Billigangebot.

Weil die Eier immer noch so billig sind wie vor vier Jahrzehnten, werden Millionen Hühner in KZ-ähnlichen Käfigen gequält; weil die Verbraucher jeden Tag Fleisch essen wollen, werden Schweine und Kälber mit Wachstumshormonen gedopt, ist Tierquälerei eine Beilage auf jedem Teller.
Massenproduktion zerstört Qualität
Was dort seit langem nicht mehr zu entdecken ist, nannte man früher Produktqualität. Alles was in Massen produziert wird, damit es möglichst billig ist, verliert an Qualität.

Das ist so etwas wie ein Naturgesetz in unserer globalisierten Gesellschaft. Entsprechend verkam die Qualität unserer Ernährung in dem Maße, wie das Essen durch Massenproduktion immer billiger wurde. Das tägliche Stück Fleisch wurde zum Symbol unseres Wohlstands, und nie hat sich die zivilisierte Menschheit so zynisch über die Naturgesetze hinweg gesetzt wie in unseren Tagen.

Dafür büßen wir.
Die Furcht geht um
Den einen zerfrisst die Furcht die Seele, am Essen zu erkranken. Andere fürchten um ihre Einnahmen, wenn die kriminelle Behandlung, die sie den ihnen anvertrauten Tieren angetan haben, plötzlich verboten wird. Die dritten fürchten allgemein um ihren Berufsstand, weil sie nicht wissen, wie sie ihn erhalten können, wenn seine Methoden radikal geändert werden. Wieder andere fürchten um ihre Pfründe, weil der Volkszorn ihnen möglicherweise die Wiederwahl verweigert.

Die Furcht geht um in unserer Gesellschaft, und das ist gut so. Denn die Furcht ist die Mutter der Vernunft. Sie ist uns in viel zu vielen Lebensbereichen abhanden gekommen.
Konsument ist auch Täter
Darüber hinaus muss der Verbraucher erkennen, dass er nicht nur Opfer, sondern auch Täter ist. Mit seiner hartnäckigen Weigerung, für gute Qualität mehr Geld auszugeben als für schlechte, hat er den Produzenten die Möglichkeit gegeben, den Markt zu überschwemmen mit Produkten, die biologisch und kulinarisch gesehen Schund sind.

Nicht nur die Produkte der Landwirtschaft. Auch was sonst in Dosen und Döschen, in Bechern und Büchsen, unter Plastik und eingefroren dem Konsumenten aufgeschwatzt wird, ist größtenteils nicht für den menschlichen Verzehr geeignet - sofern der etwas mit Genuss zu tun haben soll.
Überraschende Zwangskoalitionen
Nicht anders bei den billigen Schnitzeln vom Schwein, den Hühnerkeulen und Rindersteaks aus Massentierhaltungen. Die Feinschmecker unter den Verbrauchern haben das als erste erkannt; allein ihretwegen konnten die ersten Biobauern existieren.

Nun ist die Furcht dazu gekommen und hat die gesundheitlichen Aspekte unserer Ernährung in den Mittelpunkt gerückt. Dass damit gleichzeitig die Interessen der Feinschmecker berücksichtigt werden, ist zwangsläufig, auch wenn diese mit den Schnäppchenjägern, die jetzt um ihren
Kreislauf fürchten, wenig gemeinsam haben.

Eine Zwangskoalition nennt man das. Ihre Notwendigkeit steht außer Frage. Denn beide zusammen haben eine starke Waffe in der Hand: den Boykott der minderwertigen Qualitäten.
Wende zum Besseren?
Die Chance für eine Wendung zum Besseren war noch sie so groß wie jetzt, da über europäischen Äckern die Rauchschwaden der verbrannten Herden ziehen. Der Konsument muss sich nur seiner Macht bewusst sein - und seine unselige Bedürfnislosigkeit gegenüber dem besseren Essen aufgeben.
Weitere Berichte über die ORF-Enquete "Lebens-Mittel: Trends in der Produktion, im Handel und im Konsum":
->   Lebens-Mittel - Genuss-Mittel?
->   Die Konzentration im Lebensmittelhandel
->   Strategien zur Lebensmittelsicherheit
->   Der Wert der Lebens-Mittel
->   Die Zukunft der Ernährung
 
 
 
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01.01.2010