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Total abgefahren!  
  Wie steht der moderne Mensch eigentlich zu seinem liebsten Fortbewegungsmittel, dem Auto? Wie der Steinzeitmensch zu seiner Keule, meinen Psychologen - und analysieren Autofahrer als "Steinzeitjäger im Straßenkreuzer".  
Gelände gibt es kaum noch. Dafür umso mehr Geländefahrzeuge. Ist das ein weiterer Beleg für die alte These der Verhaltensforschung, wonach das steinzeitliche Erbe des so genannten modernen Menschen besonders im Straßenverkehr sichtbar wird?
Vierradantrieb und Bullenfänger
Da fährt ein technischer Sachbearbeiter mit einem hochmotorisierten Geländewagen mit permanentem Vierrad-Antrieb, gigantischem Nirosta-Bullenfänger und mit einem Spritverbrauch von 16 Litern auf 100 Kilometer jeden Tag ins Büro.

Der Hamburger Verkehrspsychologe Hans-Peter Grunow will mit diesem Beispiel deutlich machen, dass der heutige Mensch im Straßenverkehr jedenfalls "nur sehr eingeschränkt als rationales Wesen" erscheint.
Autos zur "Beförderung der Seele"
Dem Psychoanalytiker Micha Hilgers (Aachen) scheint "das in unseren Breiten antiquierte Geländefahrzeug vor allem eines zu bieten: Beförderung der Seele und des Selbstwertgefühls".
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Auto für die "Pseudo-Identität"
"Mittels des Konsumprodukts Auto kann sich der Besitzer eine Pseudo-Identität zulegen. Im Falle des Geländewagens handelt es sich um eine Identitätsprothese, die Stärke, Unabhängigkeit und Unkonventionalität symbolisieren soll", konstatierte Hilgers, Autor des Buchs "Total abgefahren. Psychoanalyse des Autofahrens". Er nannte als Identitätsangebot auch ein "cowboyhaftes Machodasein in der Postmoderne".
->   Interview mit Micha Hilger (Berliner Zeitung)
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Straßenverkehr: Auf Leben und Tod
Psychologe Grunow bemerkte ergänzend zu "möglichen Motiven": "Der Straßenverkehr ist einer der ganz wichtigen Lebensbereiche, in denen wir heute noch auf Leben und Tod agieren. Frustration und Aggression erhalten hier eine Potenzierung".
My car is my castle ...
Er vermutet, dass deswegen manche Autofahrer und -fahrerinnen besagte Vehikel als eine "sichere Burg" empfinden oder auch als eine Respekt einflößende "mobile Festung".
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"Festung" kontra "Wettkampf"
In dieser Bewertung des Fahrzeugs glaubt Psychologe Grunow einen deutlichen Gegensatz zu denjenigen Autonutzern festzustellen, die mit Fahrzeugen besonders hoher Geschwindigkeit "stets auf Konkurrenz, Vergleich, Wettkampf" aus sind und anderen gegenüber "Potenz zu demonstrieren" versuchen. Hingegen scheint ihm die Demonstration von Geländewagenfahrern "nicht gegen andere direkt gerichtet" zu sein.
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Opfer-Täter-Relation
Hilgers spricht indessen einerseits von einem "Gefühl der
Unangreifbarkeit durch andere Verkehrsteilnehmer", macht aber andererseits darauf aufmerksam, dass "der aggressiv gestylte Geländewagen die Opfer-Täter-Relation umdreht": Der Fahrer beherrsche das Feld. Statt selbst Angst zu haben, bedrohe er andere.

"Dass besonders mit Rammstangen hochgerüstete Fahrzeuge andere Verkehrsteilnehmer bei Unfällen massiv gefährden, wird durch die psychischen Vorteile der Überlegenheitsgefühle und der Minderung von Angst und Unsicherheit überwogen", so Hilgers.
Geheime Liebschaft Auto
In "Total abgefahren" spricht Hilgers von der "geheimen Liebschaft mit dem Auto" und den "archaischen Gefühlen", die sie wie jede Liebschaft hervorrufe.
Betätigungsfelder steinzeitlicher Mentalität
Der Verhaltensforscher und Begründer der Humanethologie, Irenäus Eibl-Eibesfeldt, nannte schon 1988 in seinen Befunden "Zur Naturgeschichte menschlicher Unvernunft" die Politik und die Autobahnen als Betätigungsfelder steinzeitlicher Mentalität.
Männer als "moderne Keulenschwinger"
Der Psychologe Rainer Schönhammer (Halle) sprach vor einigen Jahren bei einem Verkehrssicherheits-Kolloquium speziell vom männlichen Verkehrsteilnehmer als einem "modernen Keulenschwinger".
"Steinzeitjäger im Straßenkreuzer"
"Steinzeitjäger im Straßenkreuzer" ist der Titel einer der
jüngsten wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema. Wie der Verfasser, der Verhaltensforscher Klaus Atzwanger (Wien), in einem Interview der neuesten Ausgabe der Zeitschrift "Psychologie heute" (Weinheim) dazu sagt, gilt evolutionspsychologisch: "Wer mobil war, war erfolgreich".

Und dieses Bedürfnis könne der Mensch eben auch ausleben, wenn er mit dem Auto herumfahre.
Kompensationsrolle des Autos
In einem weiteren Beitrag der Zeitschrift zum evolutionären Erbe im Straßenverkehr wird auf die Kompensationsrolle des Autos verwiesen:

"Mit dem Wagen gelingen Überholmanöver, an denen man im richtigen Leben meist scheitert. So wie sich unsere steinzeitlichen Vorfahren durch ihre Körperkraft oder Tüchtigkeit als Jäger bei Frauen interessant gemacht haben, so signalisieren viele Zeitgenossen mit ihrem Wagen, über genügend Ressourcen zu verfügen".

Erwähnt wird dazu auch, dass schon bei den antiken Assyrern der Besitz eines Streitwagens höheren sozialen Rang widergespiegelt habe.

(Rudolf Grimm - dpa)
 
 
 
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01.01.2010