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Vom Sinn und Unsinn der Fremdwörter  
  Anglizismen sind potenzielle Stolpersteine im sprachlichen Alltag: Das wird wohl niemand leugnen. Der Gedanke liegt nahe, diese Stolpersteine radikal zu beseitigen. Fremdwörter sind aber wichtig für das Funktionieren einer Sprache.  
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Der "Einfluß des Englischen auf andere europäische Sprachen" ist das Thema einer Vortragsreihe des österreichischen Verbandes für angewandte Linguistik anlässlich des "Europäischen Jahres der Sprachen 2001". Lesen Sie dazu einen Originalbeitrag des Wiener Germanisten Richard Schrodt:
->   Programm der Vortragsreihe
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Fremdwörter: Stolpersteine der Kommunikation?
Vereine werden gegründet, Symposien abgehalten, Bücher geschrieben, Internetseiten gestaltet. Fremdwörter sind kein Thema aus dem Elfenbeinturm der Germanistik: Für Sprachkritik und Sprachpflege engagiert sich eine interessierte Öffentlichkeit.

Darüber könnte man froh sein, geht es doch um einen guten Zweck, der Sicherung der Kommunikation. Da mag es erstaunlich sein, dass aus den Reihen der Fachwissenschaft zur Besonnenheit gemahnt wird: Nicht das Fremdwort sei das Problem, sondern das Fachwort (oft in Gestalt eines Fremdwortes).
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Fremdwörter sind für das Funktionieren der Sprache so wichtig, weil sie die notwendigen Bedeutungsdifferenzierungen im Wortschatz signalisieren; Fremdwörter zeigen einen sozialsymbolischen Mehrwert an, der gerade für einen konkreten Kommunikationsakt wichtig sein kann; aus soziologischer Sicht ist die traditionelle Grenze zwischen Erbwort und Fremdwort fragwürdig.
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Das Deutsche: Eine Mischsprache?
Vielleicht ist das Deutsche überhaupt eine Mischsprache, für die sprachliche Reinheit nicht gefordert werden darf. Daran schließt sich die Frage an, ob es überhaupt eine ¿reine¿ Kultursprache geben kann ¿ das Altgriechische enthält Wörter aus den ¿barbarischen¿ nicht-griechischen Sprachen, das Latein Wörter aus dem Griechischen, und schon das Altindische hatte Wörter aus den umliegenden nicht-indogermanischen Sprachen übernommen.
Anstössige Fremdwörter
Es ist leicht, manchen fremdwortpuristischen Strömungen einen unangemessenen Sprachnationalismus nachzuweisen. Dennoch gerät manchen die Permissivität der Sprachwissenschaft zur Libertinage: Die Stolpersteine gibt es ja, die Anstößigkeit ist vorhanden, die Kommunikation kann problematisch werden.
"Casual Wear"
Die Aufschrift auf einem Kleidergeschäft ¿Casual Wear¿ signalisiert mir (Jhg. 1948), dass ich dort nichts (mehr) zu suchen und zu finden habe. Es ist eben Freizeitkleidung für modebewusste junge Menschen mit einem bestimmten Lebensstil und nicht für (nur im Prinzip!) akademische Krawattenträger.
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Fremdwörter als Bekenntnis zu einer Lebensform
Fremdwörter können in der Alltagskommunikation, wenn sie bewusst verwendet werden, Grenzmarken der Verständigung sein. Sie funktionieren genauso wie Neuwörter, Modewörter und Jargonausdrücke. Sie sind in dieser Funktion Bekenntnis und fordern Bekenntnis ein. Wenn sie Anstoß erregen, dann wollen sie Anstoß erregen. Sie signalisieren: Wenn du mir zuhörst, wenn du mit mir reden willst, dann musst du dich auf meine Lebensform einlassen.
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Wir sprechen immer über uns
Eine darwinistische Betrachtung der Sprache, eine Sprachauffassung, die nur die Sicherheit und Leichtigkeit der digitalen Kommunikation berücksichtigt, ist verfehlt. Wenn wir sprechen, dann sprechen wir immer auch über uns ¿ über unsere Einstellungen, Werthaltungen und Bedürfnisse.

In jedem sprachlichen Akt geben wir von uns etwas Preis. Wir stellen uns im Sprechen zur Schau. Wir bekennen uns zu den Unsrigen, wir grenzen uns von den Anderen ab. Wir markieren unsere Lebensform sprachlich ¿ und zwar oft nicht in dem, was wir sagen, sondern immer auf die Weise, wie wir etwas sagen. Sozialsymbolische Mehrwerte sind natürlich das klassisches Schlachtfeld der Kulturkritik, und hier gerät jede Sprachkritik zur Kulturkritik.
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Fachsprache und Alltagssprache
Anglizismen finden sich in letzter Zeit sehr oft in manchen Fachsprachen und werden damit auch oft zum allgemeinen Problem derer, die gelegentlich mit Fachsprachen zu tun haben müssen. Normalerweise werden Fachsprachen in geschlossenen Kommunikationsgemeinschaften verwendet und geben ihnen ihr terminologisch gefestigtes Fundament.
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Eine lange Geschichte der Sprachkämpfe
Das Fachwort kann zum Kampfwort werden und erhält damit einen wissenschaftssymbolischen Mehrwert. Solche Vorgänge waren schon immer in der Fachwissenschaft gang und gäbe, und die Geschichte der Fachwissenschaft liest sich auch als eine Geschichte der Sprachkämpfe.

Im Alltagsleben ist das folgenlos ¿ außer es stellen sich Interferenzen mit der Fachwissenschaft ein. Solche Interferenzen sind im Bereich der Anglizismen heute vor allem mit der Computerkultur verbunden; sie waren aber auch schon früher in manchen Bereichen vorhanden ¿ meist ohne als Kommunikationsprobleme auffällig zu werden.
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Wissen Sie noch, was ein "Choker" ist?
Was ein ¿Choker¿ ist, weiß man nur, wenn man ein altes Auto fährt. Früher hat das jeder gewusst, weil es jeder wissen musste: Das Hantieren mit dem Choker gehörte damals zum normalen Umgang mit dem Automotor. Zu diesem normalen Umgang und daher zum Lehrstoff der Fahrschulen gehörte es auch, den Vergaser selbst einzustellen, wenigstens von Winter- auf Sommerbetrieb und umgekehrt.

Durch den technischen Fortschritt (elektronisch gesteuerte Einspritzanlagen) sind Ding und Begriff fast verschwunden (ich schreibe das ohne Bedauern). Der Anglizismus hat seinen Zweck erfüllt und ist abgetreten. In einer Umfrage unter ca. 70 Studierenden im Juni 2000 kannten nur 4 dieses Wort, alle davon fuhren einen Oldtimer.
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Die Welt ist aber dort nicht in Ordnung, wo neuer Fachwortschatz zum Allgemeingut erklärt werden soll. Im Prinzip ist es gleichgültig, ob das entsprechende Wort ein Anglizismus ist oder nicht ¿ doch die Chance, ein Anglizismus zu sein, ist heute deutlich höher als früher.
Vom Missbrauch der Fremdwörter
Das Problem der Anglizismen im Deutschen ist nicht das ihrer ¿Anstößigkeit¿, denn man soll sich an ihnen stoßen, sondern ihrer unbedachten Verwendung.

Wer einen Werbeprospekt für die Allgemeinheit schreibt, in dem Wörter vorkommen, die dieser Allgemeinheit fremd sind (¿Fremdwörter¿ in einem anderen Sinn), hat seine Aufgabe nicht erfüllt und seine Chance auf erfolgreiche Kommunikation vertan. Nicht anders ergeht es dem Fachwissenschaftler, der die interessierte Öffentlichkeit mit seinem Fachwortschatz verprellt.
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Verdeutschungswörterbücher?
Probleme mit einem Fachwortschatz sind nicht einfach durch das Publizieren von Verdeutschungswörterbüchern zu beheben. Hier wäre die Arbeit einer mit entsprechendem Prestige ausgestatteten (staatlichen) Institution hilfreich: Sie könnte Vorschläge machen, die von der Sprachgemeinschaft angenommen, aber auch abgelehnt werden können; eine weiter gehende Sprachregelung legistisch einzuführen, halte ich für nicht angebracht.
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"Groupies" oder "Popschlampen"?
Ohne die Mitwirkung von Spezialisten aus den verschiedenen Fachbereichen geht es hier aber nicht. Für den Bereich des alltagssprachlichen Wortschatzes kann alles so bleiben, wie es ist: Da muss es auch Ecken und Kanten geben.

Verdeutschungswörterbücher, die ¿groupie¿ durch ¿Popschlampe¿ und ¿erotic center¿ durch ¿Lusthölle¿ ersetzen wollen, sind lächerlich. Mögen wir auch nicht in der besten aller Welten leben, so leben wir doch aller Wahrscheinlichkeit nach in der besten aller funktionierenden Sprachwelten und dürfen der Sprache nicht die Mängel zuschreiben, deren wir uns schuldig fühlen oder die wir anderen in die Schuhe schieben.
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Univ. Prof. Richard Schrodt, der Autor dieses Beitrages, unterrichtet am Institut für Germanistik der Universität Wien.

Im Rahmen der Vortragsreihe "Franglais, Deutschlisch und Russglijskij. Der Einfluß des Englischen auf andere europäische Sprachen" spricht Richard Schrodt am 31. 5. um 19.00 Uhr über
"Explorations im Trendyland, Anglizismen in der Werbung."
Ort: Universitätscampus AAKH/ Hof 8, Spitalgasse 2-4, 1090 Wien, Unterrichtsraum des Instituts für Anglistik und Amerikanistik.
->   Instituit für Germanistik
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Europäisches Jahr der Sprachen im ORF
In der Woche vom 6.- 12. Mai findet im ORF eine Aktionswoche zum "Jahr der Sprachen 2001" statt.
->   Der ORF und das Jahr der Sprachen
Im Programm Österreich 1 sind u.a. Sendungen in den "Dimensionen", im "Radiokolleg", im "Salzburger Nachtstudio", in "Wissen aktuell", in den "Hörbildern" und im "Österreich 1-Essay" den europäischen Sprachen gewidmet.
->   Radio Österreich 1 - Schwerpunkt "Jahr der Sprachen"
 
 
 
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01.01.2010