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Nachhaltige Visionen für Europa  
  Nachhaltige Visionen standen im Mittelpunkt des ersten Teils des ORF-Symposions "Zukunft Europas". Während die EU-Kommissarin Michaele Schreyer für eine Überprüfung aller EU-Verträge in diesem Sinne plädierte und Franz Josef Radermacher das Sozialmodell Europas als beispielhaft beschrieb, sprach sich Jens Reich gegen missverständliche Bezeichnungen wie "Ost-Erweiterung der EU" aus.  
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Ö1-Symposion "Zukunft Europas"
9. und 10. Mai
RadioKulturhaus, Argentinierstraße 30 A, 1040 Wien
Beginn: jeweils 16.30 Uhr
Eintritt frei
Auskünfte: Ö1-Servicenummer 01 501 70 371
->   Programm des Ö1-Symposions "Zukunft Europas
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Vieles erreicht, Nachhaltigkeit gefordert

Michaele Schreyer
EU-Haushaltskommissarin Michaele Schreyer erinnerte - ausgerechnet am Europatag, der am 9. Mai begangen wird - an den Weg der europäischen Integration in den vergangenen 50 Jahren. Wichtige Ziele - wie dauerhafte Friedenssicherung oder demokratische Stabilität - seien erreicht worden, dennoch hätten heute viele den Eindruck, dass es nicht ganz klar ist, wohin sich das europäische Projekt entwickelt.

Schreyer zeichnete deshalb das Bild eines nachhaltigen Europas, das zukünftigen Generationen in der Pflicht steht und bei der Festlegung und Ausführung seiner konkreten Politik die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekte als gleichwertig betrachtet.

Dazu bedürfe es nachhaltiger Ansätze in Sachen Klima-, Verkehrs, Agrar-, Sozial-, und Außenpolitik.
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Michaele Schreyer ist EU-Haushaltskommissarin in Brüssel. Zuvor war sie Senatorin für Stadtentwicklung und Umweltschutz des Landes Berlin. Von1991-1999 war sie finanzpolitische Sprecherin der Fraktion der Grünen und Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin; von 1998-1999 Fraktionsvorsitzende der Grünen.
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Vorreiter in Sachen Umweltschutz
In Sachen Umweltschutz pochte Schreyer auf die Führungsrolle der EU. Das Protokoll zum Klimaschutz von Kyoto sei einzuhalten, der Richtlinienvorschlag erneuerbarer Energien, der eine Verdoppelung der Kapazitäten von Wasser-, Wind- und Sonnenenergien bis 2010 vorsieht, umzusetzen.

Europäische Verträge, wie jener zur Förderung der Atomenergie aus dem Jahr 1957, sollen auf ihre Nachhaltigkeit überprüft und neue Verträge zur Forcierung erneuerbarer Energien geschlossen werden.
"Alpen nicht kaputt fahren lassen"
Nachhaltigkeit in der Verkehrspolitik bedeutet für Schreyer eine teilweise Verlagerung des Straßenverkehrs auf die Schiene - unter anderem durch den forcierten Ausbau transnationaler Eisenbahnlinien.

Für die Frage des Transitverkehrs am Brenner hatte sie den Rat parat, dass sich Österreich "die Alpen nicht kaputt fahren lassen soll". Das in wenigen Wochen erscheinende "Grünbuch" werde sich unter anderem damit beschäftigen. Klar müsse sein, dass auch nach Auslaufen des bestehenden Transitvertrages, die Reduktion der Umweltbelastung als Ziel bestehen bleibt.
Gemeinsame europäische Außenpolitik
Als wichtigen Bestandteil eines nachhaltigen Europa skizzierte Schreyer auch eine gemeinsame Außenpolitik. Diese bestehe nicht nur darin "mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen", sondern auch darin, potenzielle Konflikte rechtzeitig zu erkennen.

Unter nachhaltiger Außenpolitik versteht sie zusätzlich die Förderung von Nichtregierungs-Organisationen (NGOs) und Bürgerrechtsbewegungen sowie Wirtschaftshilfen.

Die damit oft in Verbindung gebrachte Kostenfrage wollte Schreyer so nicht gelten lassen. Es gebe auch so etwas wie eine "Friedensdividende", durch die Geld langfristig eingespart werden kann. Die Erweiterung der Europäischen Union bezeichnete sie in diesem Sinne als "handfeste Investition in ein nachhaltiges Europa".

Politisch könne dieses Europa der Zukunft als Föderation von Nationalstaaten bestehen - die entsprechende Debatte habe sich seit den Vorstößen von Gerhard Schröder und Joschka Fischer intensiviert.
Nationalstaaten oder Regionen?
Jens Reich, Mediziner und Bioinformatiker, der während des Symposions zum Thema "Rückkehr nach Europa?" sprach, hatte da ein paar wohlformulierte Einwände. Bei einem "Europa der Nationalstaaten" fühle er sich nicht sonderlich behaglich, gleich berechtigter erschiene ihm da schon ein "Europa der Regionen".
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Jens Reich ist Professor an der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin, Universitätsklinikum (Charité) sowie Arbeitsgruppenleiter der Bioinformatik am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Berlin. 1989 war er Mitbegründer des "Neuen Forum".
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Europa-Herstellung statt -Erweiterung

Jens Reich
Seine Hauptkritik betraf aber den Begriff der "Ost-Erweiterung", den er als "falsch" bezeichnete. Die Mitte Europas liege auch nicht in den heute als "Mitteleuropa" genannten Teilen des Kontinents, sondern "irgendwo zwischen Wilna und Minsk".

Statt "Erweiterung" schweben dem ehemaligen Mitbegründer des Neuen Forums "Herstellung", "Wiedervereinigung" oder "Vervollständigung" vor.
EU durchaus aushaltbar
Gefragt nach der gemeinsamen Substanz dieses Europa-Begriffs antwortete er mit einer kulturellen Definition. Vom antiken-griechischen Erbe über das lateinische Mittelalter und der italienischen Renaissance bis zu den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts reichen die Bestandteile dieser Definition.

Realpolitisch hält Reich die Europäische Union zwar nicht für das Paradies, aber auch nicht für einen Alptraum. Für einen Kontinent, auf dem Menschen Jahrtausende lang getötet und gequält worden sind, seien die Basarmethoden der EU durchaus auszuhalten.
Europäische Kern-Logik: Sozialer Ausgleich

Franz Josef Radermacher
Franz Josef Radermacher ging in seinem Referat der Zukunft Europas im Zeitalter der Globalisierung nach und pries die Rolle, die die 'alte Welt' in diesem Prozess spielen könnte.

Als Kern der europäischen Logik machte er den "sozialen Ausgleich, das Insistieren auf Umverteilung" aus. Die gesamtgesellschaftliche Balance sei - im Gegensatz zu den USA - wichtiger als Wirtschaftswachstum um jeden Preis. Ihre Herstellung gelinge durch vergleichweise höhere steuerliche Belastungen und durch das Verfassen von Verträgen.
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Franz Josef Radermacher ist seit 1987 Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung in Ulm, zudem Professor für Datenbanken und Künstliche Intelligenz an der Uni Ulm. Weiters ist er Mitglied im "Information Society Forum" der Europäischen Kommission und Leiter der Arbeitsgruppe "Sustainability in an Information Society".
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Globale Ökonomie ändert Vertragssituation
Problematisch wird diese auf Verträgen basierende Umverteilungslogik dann, wenn sich die Vertragbedingungen verändern. Und genau das ist in Zeiten einer zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft der Fall - das US-amerikanische Idealbild des "lonesome cowboy", das ohne Rücksicht auf andere oder gemeinschaftliche Verträge seinen Weg bahnt, scheint sich zumindest kurzfristig durchzusetzen.

Der neuen Vertragssituation fehle der passende Adressat - in Ermangelung anderer Institutionen sei es am ehesten die World Trade Organisation (WTO), die den passenden Rahmen für derartige Neuregelungen bieten könnte.
Europa könnte Vorbild sein
Das europäische Modell könnte dabei als Vorbild für Nachhaltigkeit gelten. Das Zauberwort für die strukturelle Umverteilung heiße "Kofinanzierung" - so wie in Deutschland Gelder von Westen nach Osten fließen, um die sozialen Standards stetig anzugleichen und somit gesamtgesellschaftliche Balance zu erreichen, sollten sich die OECD-Staaten im Weltmaßstab zu ähnlichen Aktionen bewegen.

Der Schlüssel zur globalen Nachhaltigkeit läge in einer Besteuerung der reichen Länder zugunsten der ärmeren. Radermacher bezifferte die Höhe der dafür benötigten Gelder mit etwa drei Prozent des Bruttosozialprodukts in den kommenden 20 bis 30 Jahren. Ansätze dazu gebe es bereits zur genüge: von internationalen Abkommen über die Besteuerung von Kerosin, über die so genannte Tobin-Tax (Steuer auf Aktiengewinne) bis zur Einführung von Internetsteuern.
Auch Überbevölkerung ist ein soziales Phänomen
Das Phänomen der Überbevölkerung, das in diesem Zusammenhang ebenfalls von Relevanz ist, sei ebenfalls nur durch Sozialmaßnahmen lösbar: in erster Linie durch soziale Absicherung und durch die Stärkung der Rechte der Frauen.

Lukas Wieselberg, science-Redaktion
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01.01.2010