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Großprojekte in Technokratenhänden  
  Demokratiedefizit, Osterweiterung, Kompetenzenwirrwarr und die langsamen Rhythmen europäischer Vertragsdebatten ¿ in den Referaten von Sonja Puntscher-Riekmann und Rudolf Hrbek ging es auf dem Symposion "Zukunft Europas" im Radiokulturhaus schnurstracks ans Eingemachte.  
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Ö1-Symposion ''Zukunft Europas''
9. und 10. Mai
RadioKulturhaus, Argentinierstraße 30 A, 1040 Wien
Beginn: jeweils 16.30 Uhr
Eintritt frei
Auskünfte: Ö1-Servicenummer 01 501 70 371
->   Programm des Ö1-Symposions ''Zukunft Europas''
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Ohne Volk nichts los?
Bild: ORF
Dem häufig vorgebrachten Argument, einer Demokratisierung der Europäischen Union stünde die Abwesenheit eines entsprechenden Volkes (demos) entgegen, begegnete die Politikwissenschaftlerin Sonja Puntscher-Riekmann mit einer pointierten Formulierung: ''Die Demokratiefrage stellt sich nicht dort, wo es ein Volk gibt, sondern dort, wo Macht ausgeübt wird.''

In der EU wird offensichtlich Macht ausgeübt und spätestens seit dem Vertrag von Maastricht beschäftigt auch die Frage ihrer Legitimation die europäischen Gemüter.
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Vertrag von Maastricht und Demokratiedefizit
Der am 1.11.1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht gilt als zweite große Reform der Römischen Verträge und als Meilenstein der europäischen Integration, weil mit ihm eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion initiiert werden.
Die Rede vom Demokratiedefizit bezieht sich darauf, dass die EU den nationalen Parlamenten Kompetenzen entzogen hat, ohne die eigenen Entscheidungen demokratisch zu legitimieren. Entscheidungen werden zumeist unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Rat der EU getroffen. Seit dem Vertrag von Amsterdam muss das Parlament allerdings bei Rechtsakten zu Entscheidungen mitherangezogen werden.
->   Der Ministerrat der EU
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Technokratische Herrschaft
Die Macht, so Puntscher-Riekmann nimmt in der EU die Form einer technokratischen Herrschaft an: Es sind vor allem die administrativen Apparate der nationalen Regierungen, die in den entscheidenden Institutionen (Ministerrat und Kommission) agieren können und dabei nicht durch die Parlamente der Mitgliedsstaaten oder der Union kontrolliert werden.

Den auf diese Weise zustande gekommenen Entscheidungen mangelt es dementsprechend nicht nur an Effizienz und Transparenz, sondern auch an demokratischer Legitimität. Denn die Balance zwischen Regierung und Parlament, die Demokratien auszeichne, sei damit de facto ausgehebelt, wie auch das Prinzip der Gewaltenteilung.
Demokratiedefizit
Ein Demokratiedefizit also, das umso schwerer wiegt, als sich die EU nach Einschätzung von Puntscher-Riekmann tatsächlich auf dem Wege der Staatwerdung befindet. Die Debatte um eine mögliche europäische Verfassung, die zuletzt durch die Überlegungen Gerhard Schröders (als Parteivorsitzender der SPD) neuen Auftrieb bekam, sei ein Indiz auch dafür, dass dieser Prozess durchaus gewollt sei und nicht lediglich das zufällige (und verschwiegene) Nebenprodukt des Maastrichter und Amsterdamer Vertrages.

Diese Debatte wie auch die Grundrechtcharta der EU wiesen in die richtige Richtung, jedoch käme die EU um einen strukturellen Wandel nicht herum und hier meint Puntscher-Riekmann vor allem die Repräsentation der europäischen Bürger in den Institutionen der EU.
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Sonja Puntscher-Riekmann ist Leiterin der "Forschungsstelle für Institutionellen Wandel und Europäische Integration" an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Gastprofessorin an der Humboldt Universität Berlin.
->   Forschungsstelle für Institutionellen Wandel und Europäische Integration
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->   Das Referat im Wortlaut
Gemach, Gemach ...
... so könnte der geheime Titel des Referates von Rudolf Hrbek, Politikwissenschaftler an der Universität Tübingen, lauten.
Speed kills
Bild: ORF
Zum einen gehört die Langsamkeit zu den ältesten Entdeckungen der EU: Die Verträge und ihre Wandlungen sind das Produkt oft zäher und langwieriger Entscheidungsprozesse, nichtsdestotrotz kommt es zu Vertragsänderungen und Fortschritten in der europäischen Integration.

In den Augen von Hrbek europäische Normalität, denn schließlich ringt auch die EU mit einem Alltag (gemeinsame Agrarpolitik, Eurostabilität, die Herausforderungen der Globalisierung, Sicherheits- und Verteidigungspolitik usw.) jenseits der populären Großprojekte wie Binnenmarkt, Währungsunion und Erweiterung.

Zum anderen tut die Aufregung um eine europäische Verfassung gar nicht Not, denn die EU wird auf ihrem bereits in ihrer Grundordnung angelegten Weg weiter voranschreiten, und der ist geprägt durch einen postnationalen Verfassungsbegriff. Es geht also ohnehin voran, nur eben nicht so schnell.
Problemreduktion
Die Debatte um eine EU-Verfassung ließe sich leichter führen, würde man sich, so Hrbek, auf die beiden wesentlichen Probleme konzentrieren: Das Problem der Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft den Mitgliedsstaaten und das Regierungssystem der EU.
Kompetenzen zuordnen
Was die EU tun kann bzw. soll und was Sache der nationalen Regierungen ist, müsse präzise voneinander abgrenzt und vor allem systematisiert werden. Nach Hrbek ein notwendiger Schritt, der aber ebenso wenig wie das Subsidiaritätsprinzip Meinungsverschiedenheiten verhindern kann: Es gibt schlicht Interessen und deshalb immer Interpretationsbedürfnisse.
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Subsidiaritätsprinzip
Das Prinzip trat mit dem Maastrichter Vertrag in Kraft und besagt, dass Ziele von Maßnahmen, die auf der Ebene der Mitgliedsstaaten nicht oder nicht ausreichend erreicht werden können, in den Zuständigkeitsbereich der EU übergehen. Über die konsequente Anwendung des Prinzips wacht seit dem Amsterdamer Vertrag ein entsprechendes Protokoll.
->   Die Europäische Union
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Es geht noch langsamer
Ist aber die Frage der Kompetenzverteilung erst einmal geklärt, so kann über das Regierungssystem der EU nachgedacht werden und hier lauern, folgt man Hrbek, allerorten Dilemmata: Vetos beeinträchtigen die Effizienz von Maßnahmen, Parlamentarisierung setzt die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen voraus und mit jedem neuen Akteur (Parteien, NGOs, Gewerkschaften etc.) steigt die Partizipation aber auch die Komplexität der Entscheidungsprozesse.
Expertokratie?
Es ist also alles nicht so einfach, aber dennoch machte Hrbek einige Vorschläge zu einer moderaten und langsamen Reform der EU: In die Verfassungsdebatte sollen im Vorfeld zivilgesellschaftliche Akteure in Form von ''berufenen Organisationen'', das heißt Experten, miteinbezogen werden. Europaweite Referenden lehnte Hrbek denn auch kategorisch ab, ebenso wie den ''Chat im Internet''.

Die endgültige Entscheidung, die durch einen "Konvent" begleitet und moderiert werden soll, verbleibt weiterhin bei der Regierungskonferenz. Die nationalen und regionalen Parlamente sollen aber gestärkt werden. Ihnen kommt es nach den Vorstellungen von Hrbek zu, Öffentlichkeit herzustellen, die Kommunikation zwischen den Ebenen zu erleichtern und politische Kontrolle auszuüben.
Beitrittsverhandlungen als Chance
Aber auch für Hrbek ist die EU nicht nur eine Angelegenheit der Kompetenzen und sachlichen Entscheidungsfindung, sondern ebenso eine des Klimas: Durch den Ausschluss der zukünftigen Mitgliedsstaaten von der Verfassungsdiskussion und das Insistieren auf unfairen und auch unnötigen Regelungen für die Kandidaten erzeuge die EU eine Stimmung, die einem späteren Miteinander auf jeden Fall abträglich ist. Hrbek plädierte deshalb dafür, die aktuellen Beitrittsverhandlungen als eine ''Phase zur Erprobung gegenseitiger Rücksichtnahme und Kompromissfähigkeit zu verstehen.''
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Rudolf Hrbek ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen. Er ist Vorsitzender der ''European Community Studies Association'' Deutschland (ECSA), Sprecher des ''Europäischen Zentrums für Föderalismusforschung'' (EZFF) und Gastprofessor am Europa-Kolleg-Brügge.
->   Europäisches Zentrum für Föderalismusforschung
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Cathren Müller
->   European Community Studies Association
Weitere Berichte vom Ö1-Symposion ''Zukunft Europas'' auf science.orf.at
->   Klaus: Tschechien zu schnellem EU-Beitritt gezwungen
->   Nachhaltige Visionen für Europa
 
 
 
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01.01.2010