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Einwanderung: Für Europa lebensnotwendig  
  Ohne Einwanderung habe Europa mit gravierenden wirtschaftlichen Nachteilen zu rechnen. Auch die beste Bevölkerungspolitik könne daran nichts ändern. Zu diesem Schluss kam der Bevölkerungsexperte Rainer Münz beim Ö1-Symposion "Zukunft Europas" im Wiener Radiokulturhaus.  
Ablehnung verständlich
Die teilweise heftige Ablehnung der Migration aus europäischer Sicht sei im geschichtlichen Kontext jedoch durchaus verständlich. "Europa ist historisch betrachtet ein Auswanderungskontinent, wir haben die Welt bevölkert", sagte Münz.
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Rainer Münz
ist Professor für Bevölkerungswissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin sowie Vorsitzender der Österreichischen Stiftung für Weltbevölkerung und internationale Zusammenarbeit.
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Er schätzt, dass seit der Entdeckung Amerikas an die 75 Millionen Europäer den Kontinent verlassen haben. Aus der Sicht der Elite habe es sich dabei um "politische und religiöse Dissidenten, unzuverlässige, wirtschaftlich überzählige Menschen" gehandelt.
Schlechtes Image

Rainer Münz
Auswanderer hatten also kein positives Image, sagte der Experte. In der Neuen Welt brachten es aber viele Migranten zu Wohlstand, etliche sogar zu beträchtlichem Vermögen.

Diese unterschiedliche historische Erfahrung erkläre auch die Diskrepanz zwischen der europäischen und transatlantischen Haltung bezüglich der Einwanderer, sagte Münz.

Die Europäer hätten Mühe, sich als Einwanderungsgesellschaft zu verstehen und betrachteten die Migration skeptisch bis ablehnend, stellte Münz fest. In den USA und Kanada hingegen würden Zuwanderer trotz aller Probleme als Grundlage des Erfolgs und als Bereicherung angesehen.
Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen
Die Ablehnung habe aber auch damit zu tun, dass die Migration im Europa des 20. Jahrhunderts eine unfreiwillige war, sagte Münz.

Als wichtigste Auslöser nannte er zum Beispiel die Oktober-Revolution in Russland, die beiden Weltkriege und die anschließende Neuordnungen Europas sowie Politik und Rassenwahn der Nationalsozialisten.

In jüngster Zeit hätten die Kriege in Ex-Jugoslawien und die damit verbundenen so genannten "ethnischen Säuberungen" Millionen von Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Zwischen 1912 und 2000 waren in Europa etwa 65 Millionen Menschen von Flucht, Deportation und Vertreibung betroffen, sagte Münz.
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Weniger Migranten als angenommen
"Die westeuropäischen Staaten haben zusammen 385 Millionen Einwohner, von denen vergleichsweise wenige, 20 Millionen, Ausländer sind - also Menschen, die nicht den Pass des Landes haben, in dem sie leben. Davon sind etwa sieben Millionen Angehörige eines anderen westeuropäischen Staates, sieben bis acht Millionen Angehörige eines Drittstaates wie etwa der Türkei oder Ex-Jugoslawiens und weitere sechs bis sieben Millionen eingebürgerte Zuwanderer oder Personen, die schon als Staatsbürger in das Land gekommen sind, in dem sie jetzt leben", so Rainer Münz im Wortlaut.
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Düstere Zukunft
"Der Blick in die Zukunft beginnt mit der Vergangenheit", so Münz. Und was er hier sieht, lässt seine Forderung nach Einwanderung verständlich werden:

Alle Gesellschaften Europas altern. Die Bevölkerungsverteilung in Österreich im Jahre 1910 habe die Bezeichnung Bevölkerungspyramide (viele junge, wenig alte Menschen) noch verdient, betonte er. Heute hingegen sei bereits jeder fünfte Österreicher älter als 60, 2040 soll es schon jeder dritte sein.
Zu wenig Nachwuchs
Das "Übergewicht der Älteren" sei neben der gestiegenen Lebenserwartung auch eine Folge sinkender Geburtenraten. Letzteres führe dazu, dass in fast ganz Europa die Bevölkerung früher oder später schrumpfen werde, sagte Münz.

In Ländern wie Deutschland, Italien oder Griechenland sei die Bevölkerung zuletzt überhaupt nur mehr durch die Zuwanderung gestiegen.

Wie sich Europas Bevölkerung letztendlich entwickeln werde, hänge vom Ausmaß der Zuwanderung und von der Herkunft der Migranten ab. Ohne Zuwanderung werde die Alterung auf alle Fälle stärker sein, aufzuhalten sei sie aber auch mit ihr nicht, sagte Münz.
Finanzielle und gesellschaftliche Probleme
Angesichts dieser Prognosen stellt sich die Frage, wie eine Gesellschaft ihre soziale Sicherung und ihr Erwerbssystem organisieren soll.

Münz schlägt vor, dass nicht bloß das gesetzliche, sondern vor allem das tatsächliche Pensionsantrittsalter angehoben wird. Neben mehr Zuwanderern sollte auch das "inländische Erwerbspotenzial" - mehr Ältere, mehr Frauen - besser genutzt werden.
Bemühen um Zuwanderer
Eigentlich müsste sich Europa schon jetzt massiv um Zuwanderer bemühen, meinte Münz. Dabei sei aber auch abzuklären, woher diese kommen sollten.
Mehr zu diesem Thema in ORF ON
->   Der große Verdrängungskampf um die Zuwanderer
Offene Grenzen als Gefahr
In einem zweiten Beitrag zu den Themen Migration und Grenzöffnungen haben sich Christian Jechoutek vom Innenministerium und Brigadier Christian Segur-Cabanac vom Verteidigungsministerium mit den Sicherheitsaspekten befasst: etwa dem Kampf gegen das Organisierte Verbrechen, Drogenhandel, Schlepperwesen.
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Christian Jechoutek
arbeitet in der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit im kriminalpolizeilichen Dienst. Er ist dort Leiter von SIRENE Österreich, der Stelle für den Austausch von Informationen zur Ausschreibung im Schengener Informationssystem.

Christian Segur-Cabanac
ist seit 1993 Leiter der Operationsabteilung im Bundesministerium für Landesverteidigung. Dort ist er für die Einsatzvorbereitung und -führung des österreichischen Bundesheers bei allen Einsätzen im In- und Ausland zuständig.
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Erfolge durch Schengener Informationssystem
Österreich verfüge über ein gutes Sicherheitsnetz, meinte Jechoutek. Das länderübergreifende Schengener Informationssystem biete mit all seinen Möglichkeiten einen sehr guten Schutz und bringe auch dementsprechende Fahndungserfolge.

Darüber hinaus seien bei der Suche etwa nach abgängigen Minderjährigen oder gestohlenen Kraftfahrzeugen mit diesem System ebenfalls beachtliche Erfolge erzielt worden.

Jeder neue EU-Mitgliedsstaat müsse die Schengener Rechtsvorschriften voll übernehmen, betonte der Kriminalist. Es gebe dafür bei der Europäischen Union zahlreiche Förderungsprogramme. Österreich zum Beispiel unterstütze Ungarn und Slowenien beim Aufbau effizienterer Außengrenzkontrollen und der Installation des Informationssystems.
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Das Schengener Abkommen
Damit wird die 1985 im im Luxemburger Ort Schengen 1985 vereinbarte Abschaffung der Passkontrollen an Binnengrenzen bezeichnet. Beigetreten sind bisher 15 Länder: Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Österreich, Portugal, Griechenland, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und - seit März 2001 - die Länder Skandinaviens, also Schweden, Finnland, Norwegen, Dänemark und Island.
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Gute Dienste des Bundesheers
Das Bundesheer wiederum leiste mit seinem Assistenzeinsatz an der so genannten Grünen Grenze entlang der Slowakei und Ungarn dem Innenministerium wertvolle Dienste, sagte Brigadier Segur-Cabanac. An Österreichs Ostgrenzen seien seit 1990 vom Militär knapp 51.000 illegale Grenzgänger aufgegriffen worden.

 


Christian Segur-Cabanac (links), Moderator Alfred Payrleitner (mitte) und Christian Jechoutek.
Grenzschutz in Gefahr?
In den vergangenen elf Jahren habe das Verteidigungsministerium rund sieben Milliarden Schilling für den Assistenzeinsatz ausgegeben - Geld das aber dringend für anderweitige Investitionen benötigt worden wäre, betonte Segur-Cabanac.

Ab 2003 werde man den Grenzschutz daher nur mehr dann durchführen können, wenn die Kosten dafür vom Innenministerium übernommen werden.
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Stichwort: Assistenzeinsatz
Der Assistenzeinsatz des Bundesheeres wurde 1990 ins Leben gerufen und sollte nur vorübergehend die überlasteten Grenzpolizisten bei ihrer Arbeit unterstützen. Allerdings hat sich dieses Provisorium - wie so manches in Österreich - als äußerst langlebig erwiesen.
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Schlepper immer besser ausgerüstet
Etwa Mitte der 90er Jahre habe sich das Verhalten der illegalen Grenzgänger deutlich geändert. Die professionellen Schlepper seien inzwischen mit modernstem technischen Gerät ausgerüstet und zudem deutlich aggressiver geworden, erklärte der Brigadier.

Dadurch wäre das Bundesheer auch zu einem "gefechtsmäßigen Verhalten" gezwungen. Während die Situation aus rein militärischer Sicht nicht sehr aufwändig und schwierig sei, hätten die Soldaten jedoch mit starken physischen und psychischen Belastungen zu kämpfen.
Menschenjagd
Segur-Cabanac verwehrt sich gegen den oftmals erhobenen Vorwurf der "Menschenhatz" im Zusammenhang mit dem Assistenzeinsatz: "Was wir hier machen, im Auftrag der Regierung, ist nichts anderes, als dass wir durch unsere Grenzraumüberwachung dafür sorgen, dass die Menschen dort nach Österreich hereinkommen, wo es dafür vorgesehen ist: nämlich an den offiziellen Grenzkontrollstellen." Es sei daher unrichtig, wenn man behaupte, dass dadurch Asyl- und andere Rechte verletzt würden.
Ausweg aus der Krise
Segur-Cabanac vertrat die Ansicht, dass man diesem in unvorstellbarem Ausmaß boomenden Zweig der Kriminalität den Boden entziehen müsse. Als, wie er einräumte, mittel- und langfristige Maßnahme sollte man zum Beispiel die Lebensumstände in den Herkunftsländern verbessern.

"Heutzutage wirbt die Organisierte Kriminalität die Leute gerade zu an", sagte der Brigadier. "Sie müssen alles verkaufen, was sie besitzen, um die horrenden Summen bezahlen zu können. Die Leute brechen damit auch ihre Brücken ab und haben keine Chance mehr, zurückzukehren."

Erschreckend sei, dass oftmals ein Teil des Preises für die Schlepperei in Form von jahrelanger Sklavenarbeit zu entrichten ist, sagte Segur-Cabanac.
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Das Ö1-Symposion "Zukunft Europas" ist am Donnerstag Abend zuende gegangen. Weitere Artikel zu den Diskussionsbeiträgen der Vortragenden finden Sie untenstehend in science.orf.at
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->   Leopold März: Der Konsument im Paradigmenwechsel
->   Sonja Puntscher-Riekmann und Rudolf Hribek über Demokratisierung und die künftige "Verfassung" der EU
->   Vaclav Klaus: Tschechien zu schnellem EU-Beitritt gezwungen
->   Nachhaltige Visionen für Europa (Michaele Schreyer, Jens Reich und Franz Josef Radermacher)
->   Thomas Klestil: Fenster, Tore, Brücken bauen
->   Jens Reich: Europa - aber welches?
->   Zukunft Europas: Eine Vorschau
 
 
 
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01.01.2010