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Cyber-Medizin: Hilfe im Netz?  
  Vom Paternalismus zur Partnerschaft - das Verhältnis zwischen Arzt und Patient befindet sich im Umbruch. Das Internet, unablässig sprudelnder Informationsquell und Forum für Selbsthilfegruppen, treibt diesen Emanzipationsprozess entscheidend voran.  
Mündige Patienten
"Was würden Sie denn tun, wenn es Ihr Körper wäre und Ihre Milz?", fragt die junge Frau ihre behandelnde Ärztin. Die Krebspatientin will keine Chemotherapie über sich ergehen lassen, denn dazu müsste die Milz entfernt werden. Die Ärztin ist verblüfft, schließlich schlägt man der Frau eine Strahlentherapie vor.

Die Information, dass in ihrem Stadium eine Strahlentherapie eher zu empfehlen ist, hatte sich die Patientin aus dem Netz geholt. Als Anja Forbriger mit 27 Jahren urplötzlich die Diagnose Lymphdrüsenkrebs gestellt bekommt, surft sie nächtelang auf US-amerikanischen Krebsseiten und deckt die behandelnden Ärzte regelmäßig mit den neuesten Forschungsergebnissen aus dem Netz ein.
Virtuelle Selbsthilfegruppen
Ihre Milz hat sie behalten und mittlerweile hat sie auch ein eigenes Austauschnetz für Krebspatienten aufgebaut. Virtuelle Selbsthilfegruppen gibt es im Netz bereits in großer Zahl. Gleich ob Hirntumor, Aids oder Prostatakrebs - es geht immer um den inhaltlichen Erfahrungsaustausch - Was hat geholfen? Welcher Arzt taugt etwas? - und den sozialen Rückhalt.

Man spricht sich Mut zu und versucht durch schwarzen Humor mit der bedrückenden Situation fertig zu werden: "Es ist ja nur Krebs!" Gerade bei seltenen Krankheiten mit wenig Betroffenen in der näheren Umgebung, oder wenn die Krankheit eine entsprechende Mobilität nicht erlaubt, ist das Netz oft das einzige Medium.
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In Österreich gibt es zwar Hunderte von physischen Selbsthilfegruppen, von denen aber nur ein kleiner Teil auch über eine Homepage verfügt. Eine Ausnahme bildet die sehr ausgefeilte Website der Hepatitis Liga Österreich (HLÖ).

Die Öffentlichkeitswirkung des Netzauftritts war enorm. "Es melden sich sehr viel mehr Leute als früher, wir bekommen fünf bis zehn E-Mails am Tag", berichtet HLÖ-Präsident Ingo Rezmann. "Noch so mancher Arzt hat Schwierigkeiten mit der von uns eingeforderten Mündigkeit und all dem Wissen, das wir uns angeeignet haben."
->   Hepatitis Liga Österreich
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Abschied vom Gott in Weiß
Auch wenn dem ein oder anderen Mediziner die Aufgabe des Wissensmonopols noch schwer fällt, so setzt sich doch die Überzeugung durch, dass ein informierter Patient ein guter Patient ist. Der Paradigmenwechsel im Arzt-Patient-Verhältnis, weg vom autoritären Gott in Weiß hin zu einem partnerschaftlichen Miteinander, ist in vollem Gange.
Gesundheitsportale
Neben den virtuellen Selbsthilfegruppen spielen bei der "Ermächtigung des Patienten" die Gesundheitsportale eine wichtige Rolle. Sie machen die Stärkung des Patienten als Konsumenten zu ihrer Unternehmensphilosophie. "Der Patient weiß über Krankheit und die entsprechenden Umstände am besten Bescheid", sagt etwa Kurt Langbein von surfmed.at.

Bei patients-online.at schlägt sich die Programmatik bereits im Namen nieder. Dabei handelt es sich um eine (kontrollierte) Datenbank von Patienten für Patienten, die durch Erfahrungsaustausch die Qualität medizinischer Angebote von Praxen und Spitälern transparent machen soll.
Kosten senken
"Unsere Kernkompetenz besteht in der Vermittlung medizinischer Informationen und Dienste", sagt Christian Maté von netdoktor.at: "Wir wissen, wie man klinisch relevante Applikationen benutzerfreundlich umsetzt." Genau danach suchen die Kostenträger im Gesundheitswesen, die Krankenhäuser und die Versicherungen, um der sich immer schneller drehenden Kostenspirale zu entgehen.

Ein Diabetiker, der seinen Zustand über Internetapplikationen überwacht, bedarf weniger ärztlicher Kontrolle und wird auch nicht unversehens zum teuren Notfallpatienten. Hier zeigt das Internet aber auch sein Janusgesicht. Es ist Hilfe und Gefahr zugleich, da die Qualität der angebotenen Dienste oft nur schwer einzuschätzen ist.
Problem Qualitätssicherung
An dubiosen Anbietern, die Impfungen gegen Krebs und andere Wundermittelchen feil halten und vom Leidensdruck Hilfsbedürftiger profitieren wollen, mangelt es nicht. "Obskurste Methoden werden da offeriert", berichtet der Wiener Sozialmediziner Ernest Groman, der sich Tausende von Gesundheitssites angesehen hat.

Gunther Eysenbach von der Universitätsklinik Heidelberg entwickelt im Rahmen eines EU-Projektes ein Zertifizierungssystem, das es erlauben soll, die Qualität eines Anbieters sofort zu überprüfen. Ein aussagekräftiges Impressum und eine Datumsangabe, um die Aktualität der Information nachvollziehen zu können, sind einige der wichtigsten Kriterien.
Gütesiegel gefragt
Das Gütesiegel "medcertain" soll interaktiv entwickelt werden, und da darf auch der Patient nicht fehlen. Dabei zeigt sich, dass die Vorstellungen von Qualitätsstandards oft weit auseinandergehen. Wie vertrauenswürdig das Foto des Anbieters wirkt, ist für manchen Nutzer ein entscheidendes Kriterium. An der Serienreife des mündigen Patienten muss also noch ein wenig gefeilt werden.

Oliver Hochadel, "heureka"
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Die Langfassung dieses Textes erscheint am 16.5. in "Schöne neue Medizin", der neuesten Ausgabe von "heureka", der Wissenschaftsbeilage des "Falters". Weitere Themen sind u.a.: Bioethikkomission - welche Regelungen braucht es in Österreich? Designerbabys - ist alles, was lebensfähig ist, auch lebenswert? Sterbehilfe - Grenzverschiebungen zwischen Leben und Tod. Alle Beiträge finden sich ab 16.5. auch auf der heureka-homepage:
->   "heureka"-Homepage
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01.01.2010