News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Grillparzer ¿ der Fortschrittliche?  
  Schulverordnete Bildungslangeweile oder Schärfung politischer Sensibilitäten und kritischer Potentiale? Ekkehart Krippendorff unterzieht Grillparzer einer politologischen Analyse und macht Österreichs schwierig-faden Dichter-Heros wieder spannend.  
Was kann Dichtung? Zum Beispiel Libussa
Grillparzers Drama Libussa erzählt die legendäre Geschichte der Stadtgründung von Prag als Geschichte der friedlichen Ablösung des Matriarchats durch die Herrschaft der Männer und die Schaffung des Staates ¿ jenes Staates, den der Soziologe Max Weber als rational organisierte, kapitalistische Anstalt definierte und den Grillparzer mit der Rede Libussas an die Gründer auf poetische Begriffe bringt:

Nicht Ganze mehr, nur Teile wollt ihr sein
Von einem Ganzen, das sich nennt die Stadt,
Der Staat, der jedes Einzelne in sich verschlingt,
Statt Gut und Böse, Nutzen wägt und Vorteil,
Und euern Wert abschätzt nach seinem Preis ¿


Aber die Dichtung kann darüber hinaus im Gleichnis fassen, was sich dem empirisch-wissenschaftlichen und historisch-soziologischen Blick entzieht: z. B. die mit der Stadt- und Staatsgründung verbundene Zerstörung von Natur.

Im Walde ¿ ertönt die Axt,
Der tausendjährigen Eichen Stämme fallen
Zu niedrigem Gebrauch. Der Felsen Innres
Durchwühlt der Eigennutz, und sprengt die Fugen,
Dem Licht verschlossen seit dem Schöpfungstag,
Um Steine sich zu brechen fürs Gehöft,
Für seiner Herde schmutzige Umfriedung.
...
Ekkehart Krippendorff
ist derzeit Visiting Fellow am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften und Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
->   Ekkehart Krippendorff im Internet
...
Grillparzer und das Kern-Credo des Kapitalismus
''Seit dem Schöpfungstag'' ¿ diese poetisch verdichtete Rede verweist auf das historisch Beispiellose moderner Naturunterwerfung und auf eine wissenschaftlich-technologische Haltung gegenüber der belebten so gut wie der unbelebten Natur, die dieser jeden Respekt versagt.

Grillparzer lässt anlässlich der Stadt- und Staatsgründung von Prag seinen ''homo technologicus'' triumphierend die fatale Hybris der Moderne verkünden:

Auch die Natur, die roh gedankenlose,
Sie fühlt den Anhauch eines geistgen Wehns
Und eilt, als Mittel sich dem Werk zu fügen,
Anteil zu nehmen an der edlen Tat.


Von ihr, der Natur, wird also arrogant behauptet, sie sei für ihre Unterwerfung und Verwertung geradezu dankbar: die Produkte des Landes dafür, dass wir sie pflanzen und ernten, die Tiere dafür, dass wir sie jagen, züchten und schlachten.
...
Franz (Seraphicus) Grillparzer
Geb. 15.1.1791 Wien; gest. 21.1.1872 Wien
1807 nahm Grillparzer, Sohn eines angesehenen Rechtsanwalts, in Wien das Studium der Rechte auf. Nach dem Studienabschluß 1811 war er zunächst Privatlehrer, dann Beamter. Nach einer (unbesoldeten) Konzipistenstelle in der Hofbibliothek wurde er 1813 bei der Hofkammer als Konzeptspraktikant angestellt, 1821 ins Finanzministerium versetzt. 1832 wurde er Direktor des Hofkammerarchivs und bekleidete diese Stelle, bis er 1856 in den Ruhestand trat.
->   Die wichtigsten Werke Grillparzers online
...
Heute beginnen wir zu ahnen, dass die Haltung, die diese Form des Fortschritts gebracht hat, einen Preis bedeutet, den wir in vorhersehbarer Zukunft nicht mehr in der Lage sein werden, zu bezahlen.

Darüber hinaus erkennt und thematisiert Grillparzer neben der Struktur- und Geistesverwandtschaft von staatlich verfasster Männerherrschaft, Naturunterwerfung und ökologischer Verwüstung auch die alles durchdringende und konstituierende Profitmentalität des kapitalistischen Marktes, die Dynamik wirtschaftlicher Expansion aus dem Geiste der Konkurrenz und die Reproduktion von immer neuen Bedürfnissen, die die kapitalistische Maschine in Gang halten.
Auf Libussas Frage, warum die Stadt ausgerechnet denn hier, an dieser Stelle, /Wo manchen sie belästigt und beirrt gegründet werden müsse, erhält sie zur Antwort, dass dieser Ort ¿ obwohl das Land selbst wohlhabend genug ist und sich selbst versorgen kann ¿ für den Warenverkehr besonders günstig sei: So schafft uns Tausch, was hier noch etwa fehlt.
Libussa:Genügsamkeit ist doch ein großes Gut!
Und darauf der moderne Staatsmann-Unternehmer:
Befriedigt ist das Tier nur und der Weise;
Den Menschen ¿ /Ward das Bedürfnis ¿ /in die Brust gelegt:
Bedürfnis, das sich sehnt nach der Befriedgung,
Und dort auch noch zu neuen Wünschen keimt.


Bekanntlich ist die Behauptung einer anthropologischen Konstante der Profitmaximierung, des Eigennutzes und der Konkurrenz um immer mehr materiellen Reichtum das Kern-Credo des Kapitalismus und die historische Lebenslüge der alternativlosen Marktgesellschaft.
Der moderne Staat und die ökologische Misere
Im Falle Grillparzers müssen wir darüber hinaus feststellen, dass seine poetische Behauptung eines ideologisch-strukturellen Zusammenhanges von moderner Staatlichkeit und Naturunterwerfung bzw. Naturverbrauch und Naturzerstörung sich zwar historisch und systematisch begründen lässt, dass sich aber die Wissenschaft dieser Frage bisher ¿ mit Ausnahme feministischer Forschungsansätze ¿ überhaupt nicht angenommen hat.

Dabei liegt ein solcher Zusammenhang doch geradezu buchstäblich auf der Hand ¿ oder, in einer Stadt wie Wien, aufs Schönste vor aller Augen. Ob Schönbrunn oder Belvedere: Das Barock, die Architektur des Modernen Staates, und vor allem die dazugehörigen Parkanlagen führen mit ihren geometrischen Formen von Rasen, Blumenbeeten und beschnittenem Buschwerk den täglichen Triumph über die Natur ästhetisch eindrucksvoll, aber so gesehen zugleich ideologisch höchst fatal vor.
Der Staat: Die rational-bürokratische Anstalt
Die von Grillparzer derart angestoßene Erkenntnis ist natürlich für eine politische Orientierung überaus folgenreich: Wenn dieser Moderne Staat, die rational-bürokratische Anstalt, selbst die ökologische Misere zuverantworten hat, dann kann er nicht das Mittel sein, diese strategisch im Sinne eines Kurswechsels, einer ''Umkehr'' zu bekämpfen, wie es z.B. rot-grüner Etatismus programmiert und wofür es die einschlägigen ''Umweltministerien'' gibt.
Der Staat- das eigentliche Problem?
So muss immer wieder daran erinnert werden, dass es ausschließlich machtstaatliche Politik war, die bis heute für die menschheitsgeschichtlich folgenreichste technologische Entscheidung ¿ und Katastrophe ¿ verantwortlich ist: die Freisetzung der Atomenergie. Der Staat, der täglich überall in der Welt tausendjähriger Eichen Stämme fällt, ist dann selbst Teil des ökologischen Problems, das er lösen zu können behauptet ¿ so wie auch das kriegerische Militär kein Mittel sein kann, irgendwo dauerhaften Frieden zu stiften.
Grillparzer: ein Visionär?
Der angeblich weltfremde Dichter hat die ''weitreichenden Folgen'' des vor 150 Jahren nur embryonal erkennbaren ''Gedankens'' der unbedingten Naturunterwerfung als Männerherrschaft durchschaut und weitergedacht ¿ und er würde darum von unseren Tschernobyls, BSE-Skandalen, Maul- und Klauenseuchen und Klimaerwärmungen nicht überrascht ¿ und wir sollten es eigentlich auch nicht sein, hätten wir ihn, um Lessings berühmtes Wort über Klopstock zu paraphrasieren, ,weniger erhoben und fleißiger gelesen', vor allem aber dann auch ernst genommen.

Univ. Prof. Ekkehart Krippendorff, Freie Universität Berlin
...
Ekkehart Krippendorff spricht am Montag, 14. Mai 2001, 18 Uhr
zum Thema "Ausgerechnet Grillparzer!"
im IFK - Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften,
Danhausergasse 1, 1040 Wien,
->   Interantionales Forschungszentrum Kulturwissenschaften
...
->   Grillparzer-Gedenkzimmer - sein Büro in Wien
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010