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Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
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Internet als Entscheidungshilfe  
  Entscheidungen zu treffen ist schwierig - noch schwieriger ist es, gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Ein Sachverhalt, den wohl jeder aus Beziehungs- und Geschäftsleben kennt. Die Wissenschaft versucht nun zu helfen - unter anderem mit dem Internet. US-Forscher haben gar einen Algorithmus entwickelt, der bei Scheidungen den Streit um den gemeinsamen Besitz vermeiden soll.  
Entscheidungen mit ARTUS
Entscheidungskompetenz zählt im Wirtschaftsleben von heute zu den Schlüsselqualifikationen, orakeln Kommunikations-Coaches und Wirtschaftsexperten. Denn das, was man weiß, also die eigene Fachkompetenz, muss man auch einsetzen können - durch die richtige Entscheidung, zum richtigen Zeitpunkt.

Wenn man etwa Entscheidungen in einer Gruppe treffen will, ohne sich dabei endgültig zu zerstreiten, soll ARTUS helfen. ARTUS, vorgestellt von einer Gruppe von Wissenschaftlern vom Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universitäten Bielefeld und Magdeburg, ist ein Internet-System zur Durchführung, Steuerung und Dokumentation von Gruppenentscheidungen.
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ARTUS
ARTUS steht für "the Adaptable Round Table with a User-specific Surface" und bietet eine Art virtuelle Infrastruktur für Gruppenentscheidungen: So können sich Teilnehmer z.B. an einen gemeinsamen "runden Tisch" setzen. Sie loggen sich in eine Kommunikationsplattform ein, die sich von einem normalen Chat-Room wesentlich unterscheidet: Es gibt eine genau festgelegte Anzahl von Teilnehmern mit festgelegten Namen. Es könnten aber auch mehrere Gruppen via Gruppensprecher an einem separaten "runden Tisch" debattieren. Die angebotenen Möglichkeiten sind vielfältig und genauer nachzulesen auf der Projektseite ARTUS.
->   ARTUS
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Subjektive Empfindungen
Interessant für die Wissenschaft ist vor allem der Prozess der Entscheidungsfindung: Was passiert dabei, wer profitiert am meisten, und welche Rolle spielen die einzelnen Teilnehmer.

Denn ein Teilnehmer wird eine Entscheidung nur dann akzeptieren, wenn er subjektiv glaubt, am besten oder zumindest gut weggekommen zu sein, unabhängig davon, wie es in der Realität wirklich aussieht. Er muss also mit seiner Rolle zufrieden sein, und diese Rolle kann man mathematisch untersuchen.
Wie entscheide ich mich richtig-er?
Der Ansatz, dieses Problem wissenschaftlich anzugehen, ist die Spieltheorie. Ein Beispiel dafür ist das so genannte Gefangenendilemma. Zwei Personen werden gefangen genommen und getrennt voneinander verhört.

Schweigen beide, kann ihnen nichts nachgewiesen werden, und sie gehen beide frei oder kommen mit milden Strafen davon. Gesteht aber einer, wenn ihm zum Beispiel Vergünstigungen dafür angeboten werden, wird der zweite umso härter bestraft.

Wie verhält man sich nun "richtig"? Das Problem dabei ist, dass die Lösung nicht nur von der Struktur der Situation, sondern auch von den handelnden Personen - den Mitspielern - abhängt. Die Überlegung muss also lauten: "Was würde ich an seiner Stelle tun, wenn ich mich in ihn hineinversetze", oder umgekehrt.
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Spieltheorie
Allgemein formuliert untersucht die Spieltheorie interaktive Strategien von Individuen, die entgegengesetzte Interessen haben. Das beschränkt sich keineswegs auf "Spiele" im engeren Sinne, jedoch kommen in künstlich herbeigeführten, spielähnlichen Situationen (wie dem oben beschriebenen "Gefangenendilemma") die zu untersuchenden Merkmale besonders deutlich und unverfälscht zum Tragen.
->   Mehr zur Spieltheorie
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Im Großen und im Kleinen
Situationen wie diese zu analysieren und Handlungspläne zu betrachten ist nicht nur Zeitvertreib, sondern wird heute immer wichtiger. Bei weltpolitischen Friedensverhandlungen kann die Frage entscheidend sein, ob es besser ist, zuerst in kleiner Runde zu diskutieren, um so auf die Sensibilitäten der Teilnehmer besser eingehen zu können, oder gleich alle gemeinsam an einen Tisch zu bringen.

Aber auch außerhalb der Weltpolitik finden die Untersuchungen schon Anwendung. Besondere Aufmerksamkeit erhielten die Arbeiten des Politikwissenschaftlers Steven Brams und des Mathematikers Alan Taylor über faire Teilungsprozesse insbesondere bei Scheidungsanwälten.
Algorithmische Scheidung
Brams ist einer der führenden Spiel-Theoretiker Amerikas, und Alan Taylor ist Mathematikprofessor am Union-College in Schenectady. Gemeinsam wollen sie das Scheidungsdilemma - den "Streit um Haus und Hof" - mit einer algebraischen Gleichung auflösen können.

Die Methode funktioniert zunächst nach einem einfachen System der Punktevergabe. Danach wird noch mit einem Algorithmus "nachgebessert". Seit Juni 1999 ist der Brams-Taylor-Scheidungs-Algorithmus offiziell patentiert - bisher das einzige Patent für Konfliktlösungen.
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Der Scheidungs-Algorithmus
Man brauche dafür lediglich ein Blatt Papier, einen Stift und vielleicht einen Taschenrechner, beschreibt Taylor das Verfahren. Jeder darf nun ganz nach persönlicher Wertschätzung auf einer Liste der Streitobjekte 100 Punkte vergeben. Daran schließt eine erste Verteilung nach einer einfachen Regel an: Ein Objekt geht an denjenigen, der dafür die meisten Punkte vergeben hat. Natürlich, so Taylor, sei das noch nicht ganz fair. Und vermutlich wird es auch Objekte geben, die gleiche Wertungen erhalten. Daher der Ausgleich, das "Adjustment": Alle Gegenstände, die gleiche oder sehr nah beieinander liegende Wertungen erfahren haben, kommen wieder in einen gemeinsamen Topf. Und jetzt kommt auch der Taschenrechner ins Spiel, denn diese Güter werden dann mit Hilfe der Brams-Taylor-Formel (besagtem Algorithmus)auf die beiden Streitpartner verteilt. Wie das geht, ist ganz genau nachzulesen in dem Buch "The win-win solution: Guaranteeing Fair Shares to Everybody", erschienen bei W.W. Norton & Company.
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Lösung = Was will ich?
Wenn man jetzt also auch noch weiß, was man selbst überhaupt will, steht Lösungen im Großen und im Kleinen wohl nichts mehr im Wege.

Und einen Vorteil haben die Forscher auf jeden Fall schon herausgearbeitet: "Der analytische Umgang mit den Konflikten erlaubt es, divergierende Interessen zu akzeptieren und damit gegensätzliche Sichtweisen zu respektieren." Ein Sachverhalt, den man wohl auch ohne wissenschaftliche Abhandlungen beherzigen sollte.

Niki Popper, ZiB-Wissenschaft
 
 
 
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01.01.2010