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Mehrheitswahlrecht zur Diskussion  
  Gibt es ein "minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht"? Der Rechtswissenschaftler Klaus Poier bejaht dies und diskutiert das österreichische Wahlrecht vor aktuellem politischen Hintergrund.  
Originalbeitrag Klaus Poier
Prof. Welan hat eindrucksvoll nachgewiesen, dass unsere Verfassung dringende Reformen nötig hätte. Einer der Bereiche, in denen eine Reform besonders wünschenswert erscheint, ist das Wahlrecht. Ich plädiere seit längerem für ein "minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht".
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Der Artikel von Klaus Poier bezieht sich auf einen Beitrag von
Manfred Welan für science.orf.at:
->   Für eine neue Bundesverfassung!
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In der Regel wird mit Mehrheitswahlsystemen die Eigenschaft "minderheitenfeindlich" verbunden. Daher wehren sich kleine Parteien auch durchwegs gegen die Einführung eines mehrheitsbildenden Wahlsystems oder fordern in Ländern mit Mehrheitswahl den Wechsel zur Verhältniswahl.
Parteienstimmen zur Mehrheitswahl
Vor einiger Zeit äußerte sich in diesem Sinne auch Christoph Chorherr von den Wiener Grünen über einen möglichen Umstieg zur Mehrheitswahl und meinte, dies sei die strukturelle Liquidierung von Grünen und Liberalen.

Volker Kier vom Liberalen Forum sprach von einer "demokratiepolitischen Ermordung", die durch ein Mehrheitswahlsystem drohe. Am Rande vermerkt sei nur, dass auch bei einem Verhältniswahlrecht - wie die letzten Wahlen für die Betroffenen bitter gezeigt haben - nicht immer alle überleben.
Verwunderung und Skepsis
Mein Vorschlag eines "minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts" stößt aus diesen Gründen daher zuerst auch immer wieder auf Verwunderung, ja Skepsis, ob diese Kombination überhaupt denkbar und terminologisch sinnvoll ist. Ein Mehrheitswahlrecht sei eben minderheitenfeindlich und könne gar nicht minderheitenfreundlich sein.
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Kern des Modells
Der Kern meines Modells, das einfach zu handhaben ist, ist es, dass die stimmenstärkste Partei die Hälfte plus eins der Mandate erhält, alle übrigen Mandate sollen verhältnismäßig auf die anderen Parteien mit mehr als 4 % der Stimmen aufgeteilt werden. Als Variante könnte man auch eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Parteien vorsehen, sodass die Regierungspartei auch durch eine absolute Mehrheit in der Bevölkerung legitimiert ist.
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Während herkömmliche Mehrheitswahlsysteme eine parlamentarische Repräsentation von Minderheitsparteien bzw. kleinen Parteien grundsätzlich verhindern, dies sogar geradezu intendieren, garantiert das von mir vorgeschlagene Wahlsystemmodell tatsächlich, dass alle Parteien, die beim gegenwärtigen Wahlsystem im Parlament vertreten sind, bei gleicher Stimmenanzahl auch weiterhin vertreten wären.
Bonus für stärkste Partei
In diesem Sinne ist es daher ein "minderheitenfreundliches" Mehrheitswahlsystem, das sich dadurch von anderen Mehrheitswahlsystemen abgrenzt. Freilich ist es ein Mehrheitswahlrecht, das der stärksten Partei einen Bonus verschafft, der ihr zur absoluten Mehrheit an Mandaten verhilft.
Ausgleich durch Kontrollrechte
Deshalb sollten im Zuge der Einführung eines solchen Mehrheitswahlrechts auch die Kontrollrechte in Form von Minderheitenrechten im Parlament gestärkt werden, um derart einen Ausgleich zum Machtzuwachs der stärksten Partei zu schaffen.
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Konkrete Umlegung auf die Nationalratswahlen 1999
Umgelegt auf das Ergebnis der Nationalratswahlen vom 3. Oktober 1999 würde dieses Modell eines minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts bedeuten, dass die SPÖ 92 Mandate anstatt ihrer jetzigen 65 erhielte, dass FPÖ und ÖVP je 40 statt bisher 52 sowie die Grünen 11 statt 14 erhielten.
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Vorteile des Wahlsystems
Der große Vorteil dieses Wahlsystems ist es, dass es sowohl zu einer regierungsfähigen Mehrheit im Parlament führt, als auch die politische Repräsentation kleinerer Parteien gewährleistet.
Maximum an Effektivität
Es bringt ein Maximum an Effektivität und das unter diesen Prämissen mögliche Optimum an "gerechter" Repräsentation. Ein solches Wahlsystem ermöglicht die Bildung einer arbeitsfähigen Regierung weit besser als Verhältniswahlsysteme - die gegenwärtige Situation in Österreich veranschaulicht dies gut.

Die SPÖ könnte allein regieren und es hätte keiner Koalition und schon gar keiner Staatskrise bedurft, um zu einer Regierung zu gelangen. Macht die Regierungspartei ihre Sache gut, wird sie wiedergewählt, macht sie ihre Sache schlecht, wird sie abgewählt und eine andere Partei bekommt ihre Chance.
Stärkung des Wählereinflusses
Damit würde auch der Einfluss der Wähler massiv gestärkt, da der Ausgang der Wahl primär die Zusammensetzung der Regierung bestimmt und nicht im wesentlichen die Verhandlungen der Parteien.

Dies war ja auch eine der Ursachen für die große Unzufriedenheit der Bevölkerung, dass die große Koalition innerhalb von 16 Jahren praktisch jede Wahl verloren hat, aber dennoch munter - bzw. leider zuletzt wenig munter - weiterregiert hat.
SPÖ war stets dagegen
Trotz vieler Vorzüge scheint die Realisierbarkeit des Modells bisher allerdings äußerst gering. Die SPÖ, deren Zustimmung für eine solche Wahlrechtsreform aufgrund der Verfassungslage notwendig ist, trat stets - von wenigen Ausnahmen abgesehen - gegen ein Mehrheitswahlrecht ein.

Dies hatte sicherlich ideologische und historische Ursachen - gilt doch das Verhältniswahlrecht als eine der großen sozialdemokratischen Errungenschaften am Beginn der Republik Österreich -, war aber immer auch vor dem Hintergrund der Befürchtung der SPÖ zu sehen, sie würde bei einem Mehrheitswahlrecht (englischer oder französischer Prägung) nur in den Städten gewinnen, alle Wahlkreise ländlicher Prägung und damit auch insgesamt jedoch verlieren.

Interessanterweise ist das am meisten mehrheitsbildende Wahlsystem Österreichs allerdings das Wiener Wahlsystem, was die SPÖ jedoch tunlichst verschweigt. Hier hatte die SPÖ nie etwas dagegen, konnte sie sich doch stets sicher sein, dass nur sie allein davon profitiert.
Mehrheitswahlrecht aus Parteiensicht
Ein minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht müsste in diesem Sinne für die SPÖ eigentlich durchaus attraktiv sein. Als stimmenstärkste Partei hätte sie nach der Wahl vom 3. Oktober 1999 wie in Wien eine Alleinregierung ¿ mit oder ohne Experten ¿ bilden können. Österreich hätte sich viele Wochen der Ungewißheit und eine unsichere Zukunft mit einer doch unter nicht wenigen Aspekten problematischen Koalition erspart.

Aber auch für FPÖ und ÖVP müßte das Modell seinen Reiz haben. Beide Parteien trennten bei der letzten Wahl gerade 6% vom ersten Platz. Dies scheint doch eine Ausgangsposition zu sein, die durchaus zu einem offenen Kampf um den ersten Platz führen könnte.

Klaus Poier
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Klaus Poier
Univ.Ass. Dr. Klaus Poier vom Institut für Österreichisches, Europäisches und Vergleichendes Öffentliches Recht, Politikwissenschaft und Verwaltungslehre an der Karl-Franzens-Universitaet Graz hat über das Thema "Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht" dissertiert. Die Dissertation ist im Böhlau-Verlag erschienen:

Klaus Poier, Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht. Rechts- und politikwissenschaftliche Überlegungen zu Fragen des Wahlrechts und der Wahlsystematik; ISBN 3-205-99338-1
->   Homepage Klaus Poier
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01.01.2010