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Westliche Soziologie in Japan  
  Die Zivilisationswissenschaften befinden sich im Umbruch. Fächer wie Indologie, Islamwissenschaften, Sinologie und Japanologie stehen vor einer Neuorientierung ihrer Methoden und Konzepte. Der japanische Soziologe Shingo Shimada geht der Frage nach, wie westliche Begriffe auch in japanische Wissenschaft einfließen können.  
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Shingo Shimada, geboren 1957 in Osaka/Japan, studierte Soziologie, Philosophie und Linguistik in Münster and Erlangen und lehrt heute Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Shingo Shimada spricht am Freitag, 18. Mai 2001 um 16 Uhr zum Thema "Culture and Translation" auf der Tagung "Paradigmenwechsel in den Zivilisationswissenschaften? Der zivilisatorische Kulturbegriff zwischen Text- und Sozialanalyse", die am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Danhausergasse 1, 1040 Wien, stattfindet.
->   Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften
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Eigenes und Fremdes im globalen Maßstab
Ein Originalbeitrag von Shingo Shimada

Die Verstehbarkeit, aber vor allem die Repräsentierbarkeit fremder Kulturen wird in der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Debatte zu einem Problem. Denn das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden ist dabei, sich grundlegend in globalen Maßen zu verändern.

Es ist im ethnologischen Diskurs von der "Krise der ethnographischen Repräsentation" (Berg/Fuchs) die Rede, die von einer tiefgehenden Skepsis gegenüber der bisherigen Darstellungsweise der fremden Kulturen in den Kultur- und Sozialwissenschaften getragen wird.
Begriffe und ihre Übersetzung
In diesem Kontext wird auch das Konzept der Übersetzung in neuem Licht betrachtet. Es wird gefordert, den Übersetzungsvorgang als ein komplexes Kulturphänomen zu betrachten, in das vielfältige asymmetrische Machtbeziehungen eingehen, denen sich der kultur- und sozialwissenschaftliche Forscher nicht entziehen kann.
Gemeinschaft und Gesellschaft
Die Unterscheidung zwischen der 'Gemeinschaft' und der 'Gesellschaft' kam erst im 19. Jahrhundert auf und wurde von Ferdinand Tönnies expliziert. Im Prozess des Auseinanderklaffens der Bedeutungen von der 'Gesellschaft' und der 'Gemeinschaft' wird ein innereuropäisches Fremdheitsverhältnis sichtbar.

Denn die Betonung der Gemeinschaft in der deutschsprachigen Soziologie ist ein Ausdruck des Zweifels an der Gültigkeit der liberalistischen Vorstellung von der 'Gesellschaft', nach der die 'Gesellschaft' sich durch ihre Eigengesetzlichkeit aus sich selbst heraus regulieren könne.
Auf Europa übertragen
Der entscheidende Punkt meiner Argumentation ist, dass dieses zunächst innereuropäische Fremdheitsverhältnis auf das Verhältnis zwischen Europa und den außereuropäischen Kulturen übertragen wurde. Dadurch geschah die folgenreiche Gleichsetzung der eigenen (europäischen) Vergangenheit mit der fremdkulturellen Gegenwart.
Japan rezipiert den Okzident
Die japanische Gesellschaft übernahm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts genau dieses kulturelle Verständnis der Differenz, indem man die sozialwissenschaftlichen Werke übersetzte, in denen die Problematik der Gemeinschaft und Gesellschaft eine zentrale Rolle spielte.

Es zeigt sich, dass die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft im Selbstverständigungsdiskurs Japans eine Doppelrolle spielte.
Abgrenzungen
Einerseits setzte man sich anhand dieser Unterscheidung vom Westen ab, indem man die eigene Sozialität als gemeinschaftlich bestimmte. Auf der anderen Seite war ebenso die Denkoperation möglich, anhand dieser Unterscheidung sich selbst mit der westlichen Entwicklung zu identifizieren, wodurch Japan von anderen asiatischen Gesellschaften abgegrenzt werden konnte.
Kulturelle Identität im Westen und in Japan
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Prozess der Abgrenzung, der vom Okzident des 19. Jahrhunderts ausgegangen war, eine konstitutive Rolle für das moderne Weltbild und die Weltordnung allgemein gespielt hat.

Auf der einen Seite bildete dieser Prozess die Grundlage des modernen, okzidentalen Selbstverständnisses. Auf der anderen Seite entwickelte sich das japanische Selbstverständnis durch einen kontinuierlichen Diskurs, in dem der Okzident wiederum als das gänzlich Andere durch die Übernahme seiner sozialwissenschaftlichen Theorien und Begriffe entworfen wurde.
Identitätskonstruktionen
Die Identitätskonstruktionen entsprechen sich und korrespondieren miteinander in diesem wissenschaftlichen, interkulturellen Kontext, wenn auch ihre Verhältnisse zueinander asymmetrisch blieben.

Insgesamt betrachtet diente das semantische Differenzverhältnis zwischen der Gemeinschaft und der Gesellschaft in einem interkulturellen Kommunikationsprozess zur Konstituierung der nationalen und kulturellen Identitäten sowohl im Westen als auch in Japan auf unterschiedliche Weise.
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Lesen Sie mehr zum Thema "Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften?" und der Tagung im IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften in science.orf.at:
->   Andre Gingrich: Umbruch in den Zivilisations-Wissenschaften
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Publikationen von Shingo Shimada
Seine wichtigsten Arbeiten: Grenzgänge ¿ Fremdgänge. Japan und Europa im Kulturvergleich (Frankfurt/New York, Campus 1994); Die Erfindung Japans. Kulturelle Wechselwirkung und nationale Identitätskonstruktion (Frankfurt/New York, Campus 2000); Zur Asymmetrie in der Übersetzung von Kulturen: das Beispiel des Minakata-Schlegel-Übersetzungsdisputs In: Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen (Berlin, Erich Schmidt 1997) S. 260 - 274; Identitätskonstruktion und Übersetzung In: Assmann, Aleida/Friese, Heidrun (Hg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3 (Frankfurt a.M., Suhrkamp 1998) S. 138-165; Überlegungen zum Konzept ¿Asien¿ In: Bahadir, Sefik Alp (Hg.): Kultur und Region im Zeichen der Globalisierung. Wohin treiben die Regionalkulturen? (Neustadt/Aisch, 2000) S. 155-168.
 
 
 
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01.01.2010