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Die Romantik der Avantgarde  
  Avantgarden halten nicht die Versprechen, die sie geben. Die radikale Verheißung des Neuen ist oft nur eine Aktualisierung alter Konzepte von Kunst, meinen die Autoren eines neuen wissenschaftlichen Sammelbandes: "Das Jahrhundert der Avantgarden". Die im 20. Jahrhundert immer wieder aufgestellte Forderung, Kunst und Leben müssten wieder miteinander versöhnt werden, ist nicht nur aufgrund der Verstrickung mancher Avantgarden in totalitäre Systeme problematisch.  
Moderne versus Avantgarde
Fink Verlag
Was kennzeichnet die "Avantgarde" und welchen Status darf sie im Kontext der "Moderne" für sich beanspruchen? Fallen avantgardistische Bewegungen hinter die "Moderne" zurück?

Diesen Fragen widmete sich vor gut drei Jahren ein vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) organisiertes Symposium mit dem Titel "Das Jahrhundert der Avantgarden" - gemeint war selbstverständlich das 20. Jahrhundert, das reich an Avantgarden war und noch reicher an der problematischen Verzahnung prometheischer Kunstauffassung und Politik.

Nun ist die Dokumentation dieser Veranstaltung in Form eines wissenschaftlichen Sammelbandes erschienen, der am Dienstagabend vorgestellt wird.
Eine Konkurrentin der Moderne?
Wie so oft entkommt auch hier die notwendige Aufarbeitung lebhafter Symposiums-Diskussionen einem Problem nicht: Gebündelt wird eine Sammlung von Beitragstexten, und die Herausgeber bemühen sich um ein theoretisches Vorwort, das den doch sehr unterschiedlichen Referaten gerecht werden soll.

Ein Symposium lebt von der Vielfalt und dem Widerspruch - und das ist gerade die Hürde für ein Buch mit einem doch halbwegs systemischen Anspruch.

Gesucht wird also nach einer Charakterisierung der "Avantgarde" im Kontext ihrer - angeblich - schärfsten Konkurrentin: der "Moderne". "Seit den Anfängen im frühen 20. Jahrhundert tritt der Terminus 'Avantgarde' in Konkurrenz zu 'Moderne'/'Modernismus'", wird man in der programmatischen Einleitung erinnert.
Kunst versöhnt mit dem Leben
Die Klärung des "Moderne"-Begriffs fällt naturgemäß schwer, die Avantgarde lässt sich leichter bestimmen: Die Avantgarde des "frühen 20. Jahrhunderts ist trotz oder gerade wegen ihres heftigen anti-romantischen Affekts immer noch eine romantische Bewegung". In der Avantgarde gehe es, wie die Herausgeberin Cornelia Klinger in ihrem Beitrag schreibt, "um das seit der Romantik präsente Postulat einer Versöhnung von Kunst und Leben".

Die Forderung, die Kunst ins Leben zu überführen, heiße am Ende, "die ausdifferenzierte, institutionalisierte und professionalisierte Sphäre der Kunst aufzuheben".
Autonomisierung der Kunst
Genau an dieser Stelle hätte man freilich gerne mehr gewusst: Denn die Autonomisierung der Kunst (was man ja als eine Sigle von Moderne werten könnte), ist immerhin ein Prozess, der deutlich vor der Romantik, nämlich im Prozess der Spätaufklärung, ansetzt - das hat etwa die germanistische Forschung der letzten Jahren hervorgehoben.

Als Charakteristikum einer (nicht nur ästhetischen) Moderne wird mittlerweile auch die Selbstbezüglichkeit der Zeichensysteme angesehen - und auch diese beginnt letztlich lange vor dem 20. Jahrhundert, etwa um 1800.

Mitunter entkommt man nicht dem Eindruck, dass Konzepte wie "die Romantik", "die Avantgarde", "die Kunst im 19. Jahrhundert" (die in dieser Zeit angeblich damit beauftragt gewesen sei, so Karin Harasser, "die Welt abzubilden") ideengeschichtlich so lange eingeebnet werden, bis zu einfache Distinktionen (Avantgarde=/Moderne) bzw. Analogien (Avantgarde=Romantik) möglich werden.
Zuerst die Moderne, dann die Avantgarde
Zeichen der Avantgarde mag ein Kunstkonzept sein, das sich vordergründig auf die Manipulation des Lebens selbst und nicht auf die von Artefakten richtet. Damit ein solches Programm von Avantgarde greifen kann, muss ein Prozess der Autonomisierung von Kunst vorausgesetzt werden. Andernfalls hätte die Forderung nach einem Zusammenführen von Leben und Kunst keine Grundlage.

Daraus ergibt sich aber letztlich, dass Begriffe wie "Moderne" und "Avantgarde" weniger in Konkurrenz zu einander stehen, sondern der Begriff der Moderne der Avantgarde immer schon voraus ist - bzw. die Avantgarde bereits entwicklungsgeschichtlich hinter der Moderne herhinkt.
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Avantgarde und gesellschaftliche Entwicklung
Historisch prekär erscheint die in dem Sammelband referierte These, dass man an Avantgarde bzw. Modernismus nicht nur den Grad an Bruch mit der Vergangenheit ablesen könne, sondern dass Avantgarde bzw. Modernismus ein Seismograph für gesellschaftliche Entwicklungen seien.

"Modernismus und Avantgarde", heißt es in der Einleitung, "geben somit Antworten auf die Frage, ob der in beiden Fällen prinzipiell als Prämisse zu Grunde gelegt entscheidende Bruch mit der Vergangenheit schon geschehen ist, oder ob die Revolution in einer mehr oder weniger nahen Zukunft noch vor uns liegt. Eine solche Differenzierung konvergiert mit einer geo-politischen Differenzlinie, die nicht selten als Unterscheidungskriterium zwischen Modernismus und Avantgarde angegeben wird, nämlich mit der These, dass Modernismus eher in den fortgeschrittenen und fortschrittlichen Ländern (wie USA, England, als Grenzfall Frankreich) auftritt, während relativ zurückgebliebene Länder (wie Deutschland, Italien, Russland und andere osteuropäische Nationen) die Kernländer der Avantgarde bilden."

Spinnt man diesen Gedanken weiter, dann läge der "Avantgarde-Zone" der Totalitarismus offenkundig eher im Blut als der anderen Zone. Hier wird anhand von Einzelbeispielen (Futurismus, etc.) historisch doch ein wenig leichtfertig generalisiert.
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Keine Boten des Neuen
Avantgarden - und daran erinnert schließlich der Kunsthistoriker und neue Direktor des IFK Wien, Hans Belting, in seinem Beitrag - sind alles andere als dramatische Boten den Neuen.

Bis in die 1960er Jahre, so Beltings These, radikalisierten die Avantgarden bloß das Grundkonzept der modernen Kunst - ohne dieses aber über Bord zu werfen. Für den Kunsthistoriker Belting ist die klassische Moderne von einer permanenten Spannung zwischen der Idee und dem Werk geprägt. Belting erinnert an ein Dilemma in der Kunstbetrachtung: die immer noch vorherrschende Orientierung an den Inhalten, den Ideen der Kunst.

Gerade Theoretiker wie Walter Benjamin haben an der inhaltlichen Fixierung einer musealen Kunstbetrachtung mitgewirkt. Bis 1960, also über einige Avantgarden hinaus, herrsche der romantische Werkbegriff vor. Für Belting steht eine Dauerspannung zwischen der Idee und dem Material im Vordergrund.

Diese Spannung löse sich erst ab den 60er Jahren auf, wo diese beiden Pole auseinander fielen. Auf der einen Seite sieht Belting jene Kunst, in der nur noch die Idee gefeiert wird - etwa in der Konzeptkunst. Auf der anderen Seite stehe die Objektkunst, in der lediglich das Material noch zählt.
->   Hans Belting entzaubert die Avantgarde (1.12.2001)
Schwierige Synthese
Die in sich sehr überzeugenden Einzelbeiträge des Sammelbandes machen ein Problem der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften deutlich:

Kategorien wie etwa das "Werk" sind für den Philologen andere als beispielsweise für den Kunsthistoriker usw. - eine Differenzierung, wie sie Belting vorschlägt, muss der Literaturwissenschaftler z.B. in ein anderes semiotisches System übertragen. Eine Intermedialität ist schon in den Künsten schwer - um so schwerer fällt sie für die Wissenschaft, die nach einer Klärung von Bewegungen wie der "Avantgarde" ringt, und schon zu Begriffen wie "Romantik" sehr unterschiedliche Vorstellungen hat.

Gerald Heidegger, ORF.at, 24.1.05
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
->   IWM-Symposium "Das Jahrhundert der Avantgarden"
 
 
 
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01.01.2010