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US-Forscher: Musik ist ein Echo der Muttersprache  
  Musik gilt als internationale Sprache - nicht ganz zu Recht, wie ein Team aus US-amerikanischen Neuro- und Sprachwissenschaftlern herausgefunden hat. Ihrer Analyse zufolge spiegeln sich Besonderheiten der Muttersprache eines Komponisten auch in seinen Werken: Tonhöhe und Länge der Vokalbetonung gleichen sich in Sprache und Musik.  
Die Wissenschaftler rund um Aniruddh Patel und Kollegen vom Institut für Neurowissenschaften der Universität San Diego (Kalifornien) haben sich bei ihrer Analyse auf britische und französische Komponisten konzentriert.

Auch wenn sie bei einzelnen "Meistern" zu einem durchaus gemischten Befund kamen, lassen sich die Klangcharakteristika des "singenden" Englisch und eher gleichförmigen Französisch auch in der Musik finden.
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Über die Arbeit von Aniruddh Patel und Kollegen berichtet Philip Ball unter dem Titel "Concerto for Mother Tongue" in der am 9. Juli 2005 erschienenen Ausgabe des "New Scientist".
->   New Scientist
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Adorno: Musik fehlen die Einzelaussagen
Die Frage, ob man die Musik auch als Sprache oder zumindest als sprachähnlich bezeichnen könne, ist nicht neu. Schon 1956 dachte Theodor W. Adorno über "Musik, Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren" nach und stellte fest, dass Musik zwar "sprachähnlich" sei, man sie aber nicht als Sprache schlechthin bezeichnen könne.

Die "Sprachlichkeit" der Musik manifestiere sich durch einen "organisierten Zusammenhang von Lauten", gleichzeitig treffe sie aber keine "Einzelaussagen" wie die Sprache, sondern erschließe sich nur aus dem Gesamtwerk. Deshalb könne Musik letztlich nicht als Sprache bezeichnet werden.
->   Mehr über Theodor W. Adorno bei Wikipedia.de
Zusammenhang Sprachmelodie und Musik
Die Lautstruktur von Musik haben auch die US-Forscher aufgegriffen, um ihrer Fragestellung nachzugehen, ob es einen Zusammenhang zwischen der Sprachmelodie und der Musik eines Landes gibt.

Vorerst konzentrierten sich Aniruddh Patel und Kollegen auf zwei in vielen Belangen wetteifernde Länder: Frankreich und Großbritannien, beide sind mit einem starken nationalen Selbstbewusstsein ausgestattet.

Die Forscher wollten herausfinden, ob sich die Eigenheit des Landes mit der Sprache als zentrales Element auch in der Musik spiegelt.
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Instrumental-Stücke ohne vorgegebenen Rhythmus
Für ihre Analyse wählten die Forscher Instrumental-Stücke aus, deren Klang nicht durch einen speziellen Rhythmus wie etwa Walzer oder durch einen klar erkennbaren Einfluss aus dem Ausland wie im Fall von Maurice Ravels "Bolero" beeinflusst schien.
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Analysekriterien: Vokallänge und Tonhöhe
Als Analysekriterien wählten sie zwei unter Linguisten und Sprachwissenschaftlern etablierte Maßzahlen: Zum einen verwendeten sie den nPVI-Index, der als "normalised pairwise variability index" die Länge von Vokalintervallen misst. Konkret werden die Längenunterschiede zweier aufeinander folgender Vokale in einer gesprochenen Phrase festgehalten.

Als zweites Messinstrument wählten sie die Tonhöhe. In der gesprochenen Sprache wird sie ständig variiert, wodurch das Verständnis von Wörtern und Sätzen leichter fällt.
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"Musikprache"
Warum soll es überhaupt einen Zusammenhang zwischen Musik und Sprache geben? Manche Forscher glauben, dass sie eine gemeinsame entwicklungsgeschichtliche Wurzel haben.

Steven Brown vom schwedischen Karolinska Institut entwickelte die These, dass unsere Vorfahren eine Art von "Musiksprache" zur Kommunikation entwickelten: Der Inhalt wurde weniger durch unterschiedliche Töne als durch die Tonhöhe vermittelt. Er verweist auf viele Tiere, die zur Alarmierung anderer sehr hohe Töne verwenden.

Seiner Einschätzung nach existieren noch solche Tonlagen-betonte Sprachen: Einzelne Mitglieder der chinesischen Sprachfamilie gehören ebenso dazu wie das Japanische und die skandinavischen Sprachen.
->   Neurowissenschaftliche Abteilung des Karolinska Instituts
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Großbritannien: Längere Töne und variablere Intervalle
Wie Philip Ball im "New Scientist" berichtet, fanden Aniruddh Patel und Kollegen einen Zusammenhang zwischen Sprache und Musik: Es zeigte sich, dass die Vokale nicht nur im Englischen länger sind als im Französischen. Auch die Töne in den Werken englischer Komponisten waren durchschnittlich länger.

Auch die Ergebnisse zur Tonhöhe bestätigten die Korrelation zwischen Sprache und Musik: Das Englische variiert stärker in der Tonhöhe, klingt also stärker "gesungen" als das Französische. Und auch in der britischen Musik fanden die Forscher deutlichere Variierungen der Intervalle.
Komponisten durch Sprache unbewusst geprägt
Patel erklärt diese Ähnlichkeiten zwischen Musik und Sprache durch die prägende Wirkung der Muttersprache: Komponisten nehmen das Sprachmuster bestehend aus Rhythmus und Tonlage auf und lassen es unbewusst in ihre Arbeit einfließen, erklärt der Forscher im "New Scientist".
Österreich: Nationales Selbstbewusstsein in Musik
Gleichzeitig betont er aber auch, dass historische und gesellschaftliche Umstände die Musik prägen könnten und illustriert das am Beispiel Österreichs und Deutschlands:

Komponisten dieser Region hätten im 17. und 18. Jahrhundert relativ kurze Töne verwendet, obwohl das Deutsche durch eher lange Vokal-Intervalle charakterisiert wird. Patel vermutet hier den Einfluss der italienischen Musik.

Mit dem aufkeimenden Deutsch-Nationalismus habe sich das geändert und die Musik sich stärker der Sprache angepasst.
Praktische Anwendung: Akzent verbessern
Die US-Forscher sehen ihre Arbeit - auch wenn es um Kunst geht - aber nicht als "L'art pour l'art", also schöngeistige Beschäftigung ohne Praxisrelevanz.

Sie wollen ein Computerprogramm entwickeln, das die Betonungsfehler von Sprachschülern analysiert und damit den Akzent verbessert.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 8.7.05
->   Publikationen von Aniruddh Patel (mit zahlreichen .pdf-Downloads)
Mehr über Musik in science.ORF.at:
->   Wenn die Musik im Gehirn weiterspielt (10.3.05)
->   Synästhesie: Musikerin kann Akkorde "schmecken" (3.3.05)
->   Warum Musik glücklich macht (21.5.04)
 
 
 
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01.01.2010