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Forscher enträtseln Bio-Glaskäfig aus der Tiefsee  
  Praktisch unzerbrechlich und dennoch fragil ist das gläserne Skelett des Tiefsee-Glasschwamms Euplectella. Ein Forscherteam aus Deutschland und den USA konnte nun die Bauprinzipien dieses Materials klären, das der Technik als Vorbild gilt. Sie konnten Zeigen, dass die Bio-Glasfasern über viele Größenordnungen und insgesamt sieben hierarchische Ebenen optimal miteinander verknüpft sind.  
Lehrbuchbeispiel für Umgang mit spröden Materialien
Das käfigartige gläserne Skelett von Euplectella zeigt, welch außergewöhnliche Materialien die Natur aus einfachsten Rohstoffen herstellen kann.

Der Gießkannenschwamm lebt in Meerestiefen von 40 bis zu 5.000 Metern und gilt als Lehrbuchbeispiel, wie sich mit spröden Materialien wie Glas bruchfeste Strukturen erzeugen lassen, schreiben die Wissenschaftler der Bell Labs, der Universität Kalifornien und des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam.
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Die Studie "Skeleton of Euplectella sp.: Structural Hierarchy from the Nanoscale to the Macroscale" von Joanna Aizenberg und Kollegen ist am 9. Juli 2005 in "Science" erschienen (Band 309, S. 275-278, DOI: 10.1126/science.1112255).
->   Science
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Käfig praktisch unzerbrechlich
 
Bild: Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung

Der Schwamm (Bild oben) ähnelt einem weißen Kolben voll feiner Löcher. Durch diese können Larven einer bestimmten Garnelenart in sein Inneres gelangen. Meist siedeln sich dort Pärchen an, die dann rasch zu groß werden für die Öffnungen ihrer Behausung. Das Krabbenpaar verbringt deshalb sein ganzes Leben in dem Schwamm, so die Max-Planck-Gesellschaft in einer Aussendung.

Doch wie gelingt es dem Glasschwamm, den beträchtlichen mechanischen Beanspruchungen in der Tiefsee zu widerstehen? Sowohl die Zangen der Krabben als auch andere äußere Einflüsse könnten leicht zum Bruch der filigranen Glasstruktur führen. Tatsächlich ist der Käfig aber praktisch unzerbrechlich.
Sieben hierarchische Stufen
Bild: University of California at Santa Barbara
Die Wissenschaftler haben diese Strukturen vom Nanometer- bis zum Zentimeterbereich untersucht: Hierbei förderten sie zutage, dass dieser Käfig aus mindestens sieben hierarchischen Stufen aufgebaut ist.

Eine erste Antwort, warum die Struktur unzerbrechlich scheint, fand sich im Inneren der Fasern, die aus konzentrisch angeordneten Glasschichten mit wenigen Mikrometern Dicke aufgebaut sind (siehe Bild rechts). Die Glaslamellen sind untereinander durch eine hauchdünne Klebeschicht aus organischer Matrix verbunden.

Das Glas selbst entsteht offenbar durch das Aneinanderfügen von Silikat-Nanopartikeln, wie sich durch Ätzungen zeigen ließ. Nanopartikel, Lamellen und Fasern bilden die hierarchischen Ebenen 1-3.
Mikrolaminat verringert Sprödigkeit
Der Faseraufbau in Form eines Mikrolaminats ist ganz wesentlich für die Verringerung der Sprödigkeit des Glases. Risse und Kratzer, wie sie zum Beispiel durch die Zangen von Garnelen hervorgerufen werden können, führen daher nicht so leicht zum Bruch wie bei massivem Glas, denn Risse werden an den organischen Zwischenschichten abgelenkt und so am Ausbreiten gehindert.

Eine Vielzahl von Fasern unterschiedlicher Dicke sind mit Glaszement zu starken Konstruktionsstäben verbunden. Diese Stäbe sind vertikal, horizontal und diagonal angeordnet und zu einem lockeren Netz verwoben.
Natürliche Fachwerkkonstruktion
Bild:Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung
Ihre Struktur ähnelt einer Fachwerkkonstruktion (Bild rechts). Deren genaue Analyse zeigt, dass die diagonalen Verstrebungen gerade ausreichen, um das Fachwerk gegen Scherung zu versteifen. Offenbar hat der Tiefseeschwamm hier wesentliche Ingenieurprinzipien vorweggenommen.

Zusätzlich ist die Struktur durch spiralförmige Rippen verstärkt, um ein Quetschen der Käfigstruktur zu erschweren. Zuletzt sorgt noch die geschwungene Form des Käfigs selbst für Stabilität: Er verjüngt sich nach unten, wo der Schwamm durch dünne Glasfäden im Meeresboden locker verankert ist.
Impuls für Materialforschung
Diese natürliche Konstruktion ist ein Lehrbuchbeispiel, wie sich mit spröden Materialien wie Glas bruchfeste Strukturen erzeugen lassen. Einzelne dieser Prinzipien sind in der Werkstoffwissenschaft, in der Mechanik und in der Architektur längst bekannt und werden auch eingesetzt. Die Faseranordnung von Euplectella ist sogar schon als Vorbild für architektonische Bauten verwendet worden.

Wirklich erstaunlich ist jedoch der Umstand, dass es dem Schwamm gelingt, eine ganze Reihe von mechanischen Konstruktionsprinzipien auf vielen Größenskalen vom Nanometer bis zum Zentimeter zu kombinieren und gleichzeitig einzusetzen. Ähnliches ist aus dem Bereich der Technik noch nicht bekannt und bedeutet einen neuen Impuls für die biomimetische Materialforschung.
Grundlage für komplizierte Konstruktion unbekannt
Ein ganz wesentliches Geheimnis hat der Tiefseeschwamm Euplectella allerdings noch nicht preisgegeben: Es ist völlig unbekannt, wie ein so vergleichsweise primitiver Organismus ein derart komplexes und über viele hierarchische Stufen optimiertes Gebilde wie das Venusblumenkörbchen überhaupt hervorbringen kann.

[science.ORF.at/MPG, 11.7.05]
->   Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, Potsdam
->   Bell Laboratories (New Jersey, USA)
->   University of California (Santa Barbara)
 
 
 
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01.01.2010