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Forscher nach falschem Gerichtsgutachten verurteilt  
  In Großbritannien wurde ein renommierter Wissenschaftler für seine Gutachtertätigkeit bei einem Mordprozess verurteilt. Der General Medical Council, die oberste Schiedsstelle bei Konflikten zwischen Ärzten und Patienten, spricht von "schwerem beruflichen Fehlverhalten" und wirft damit ein Schlaglicht auf die mitunter umstrittene Tätigkeit wissenschaftlicher Gutachter. In Österreich sichern die Gerichte selbst die Qualität ihrer Experten.  
Umstrittene Aussage zum Plötzlichen Kindstod
Meadow hatte 1999 in einem Prozess gegen eine Frau ausgesagt, die ihre beiden Kinder umgebracht haben soll. Die Angeklagte bestand darauf, dass ihre Kinder durch einen Plötzlichen Kindstod gestorben sein. Meadow setzte die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich Kindstod der Grund gewesen sein könnte, mit 1:73.000.000 an. Tatsächlich war sie laut Angaben der BBC 1:200.

Meadow wird nun von der Liste medizinischer Experten der Gerichte gestrichen - eine Maßnahme, die auch österreichischen Gutachtern bei Fehlverhalten droht, bei bekannten Wissenschaftlern aber so gut wie nie angewandt wird.
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Roy Meadow: Experte für Kindesmissbrauch und Gewalt
Die britische Öffentlichkeit hat den Fall seit dem umstrittenen Urteil gegen die Juristin Sally Clark aufmerksam verfolgt. Das lag zum einen an der Person Roy Meadow: Der Kinderarzt galt als anerkannter Forscher, der vor allem zum Thema Kindesmissbrauch und Gewalt in der Familie Grundlagenarbeit geleistet hat.

1977 veröffentlichte er in der Fachzeitschrift "The Lancet" einen Beitrag, in dem er erstmals das von ihm so genannte "Münchhausen-by-proxy-Syndrom" beschrieb: Damit fasste er das Phänomen, dass Eltern ihre Kinder krank machen, um von diesen mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.
->   Mehr über das "Münchhausen-by-proxy-Syndrom" in Wikipedia.de
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Plötzlicher Kindstod: Aggressionshandlungen vertuschen
Auch zum "Plötzlichen Kindstod" publizierte Meadow mehrere Studien, in denen er darauf hinwies, dass der Kindstod oft nur vorgespiegelt werde, um Aggressionshandlungen gegen die eigenen Kinder zu vertuschen.

Meadow erlangte hohe wissenschaftliche Ehren und wurde zum Präsidenten des "Royal College of Paediatrics and Child Health".
Als Experte zum Clark-Prozess beigezogen
Aufgrund seiner wissenschaftlichen Reputation war Meadows ein gefragter Gerichtsgutachter. Deshalb wurde er auch 1999 zu dem Verfahren gegen Sally Clark hinzugezogen, der besonders schwierig zu beurteilen schien:

Beide Kinder der Juristin starben - in einem Abstand von etwa mehr als einem Jahr - unerwartet, nur die Mutter war beide Male anwesend.

Die Frau plädierte vor Gericht auf unschuldig mit der Begründung, dass beide Kinder durch einen "Plötzlichen Kindstod", also einen unerklärbaren Atemstillstand, gestorben seien.
Hohe Unwahrscheinlichkeit statistisch untermauert
Roy Meadow lieferte ein Gutachten mit folgender Kernaussage: Die Wahrscheinlichkeit, dass es in wohlhabenden, nicht rauchenden Familien wie den Clarks zwei Mal zu einem Plötzlichen Kindstod komme, liege bei 1:73 Millionen.

Und er verglich diese Wahrscheinlich mit dem größten nationalen Pferderennen, bei dem vier Jahre hinter einander mit exakt derselben Zeit gewinnen müssten.
2003: Schuldspruch in Freispruch umgewandelt
Diese Argumentation gab laut Prozessbeobachtern den Ausschlag für den Schuldspruch. 2003 wurde er in einen Freispruch umgewandelt - unter anderem deshalb, weil anerkannte Institutionen wie die Royal Statistical Society und viele Kindstod-Experten die Zahl nicht nachvollziehen konnten und unter Einbeziehung aller genetischen und Umwelteinflüsse auf eine Wahrscheinlichkeit von 1:200 kamen.

Zu diesem Zeitpunkt wurde der General Medical Council aktiv, eine Behörde zur Qualitätssicherung des britischen Gesundheitswesens. Ein Verfahren gegen Meadow wurde eingeleitet und erregte auch unter Wissenschaftlern viel Aufsehen.
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Plädoyer des "Lancet" für Meadow
Zuletzt sprach sich der Chefredakteur des Medizinjournals "The Lancet" für einen Freispruch aus.

Nicht ein einzelner, sondern das System der Beiziehung von Experten zu Gerichtsverfahren sei unter Beschuss gekommen, weshalb die Regierung einen Untersuchungsausschuss einberufen müsse, der Empfehlungen für den Einsatz von Experten vor Gericht untersuchen und festlegen soll.
->   Plädoyer des Lancet-Herausgebers für Roy Meadow (Volltext nach Gratis-Registrierung)
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Urteil: Schweres berufliches Fehlverhalten
Der Spruch des General Medical Council fiel dennoch eindeutig aus: Roy Meadow habe sich "schweren beruflichen Fehlverhaltens" schuldig gemacht und wird deshalb von der Liste der medizinischen Experten der Gerichte gestrichen.
Österreich: Gerichte sichern Qualität der Gutachter
Eine solche Konsequenz kann prinzipiell auch in Österreich jedem Gutachter drohen, dem eine Verfehlung nachgewiesen werden kann.

Für die Qualitätssicherung des Expertenwesens sind hierzulande aber die Gerichte selbst zuständig, erklärt die Leitende Staatsanwältin Maria Wais, im Justizministerium zuständig für das Gutachterwesen, im Gespräch mit science.ORF.at.
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Wie man Gutachter wird
Um in den Pool der Gerichtsgutachter aufgenommen zu werden, werden die Fachkundigkeit und persönliche Integrität des Kandidaten durch Zeugnisse und Strafregisterauszug geprüft. Wenn beides in Ordnung ist, kann die Person vom Gericht mit Gutachten beauftragt werden - solange, bis sie sich etwas zu schulden kommen lässt, woraufhin der zuständige Präsident des Landesgerichtes verständigt werden muss und den- oder diejenige von der Liste streichen kann.

Bei Ärzten gibt es in Österreich eine Ausnahmeregelung: Ihre Fachkundigkeit wird nicht überprüft, sie wird aufgrund der langen Ausbildung vorausgesetzt.
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Keine unabhängige Behörde
Eine Behörde wie den General Medical Council gibt es in Österreich nicht, beschweren könne man sich aber schon, so Wais: etwa bei der Patientenanwaltschaft oder - in anderen Bereichen - bei einzelnen Innungen oder Fachverbänden, die dann nach eigenem Ermessen gegen "schwarze Schafe" vorgehen.

Ein so spektakulärer Fall wie in Großbritannien sei ihr aber in Österreich nicht bekannt.
Fall Gross: Gutachter in Österreich besser abgesichert
Fälle aus der Vergangenheit wie etwa jener des Psychiaters Heinrich Gross lassen jedoch vermuten, dass der Status eines wissenschaftlichen Gutachters in Österreich besser abgesichert ist als in Großbritannien:

Gross arbeitete trotz schwerer Anschuldigungen, in der NS-Zeit geistig behinderte Kinder gequält und getötet zu haben, bis Ende der 1990er Jahre als Gerichtsgutachter. Das Mordverfahren wurde im Februar 2005 wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eingestellt.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 19.7.05
->   General Medical Council
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01.01.2010